2. Die „Schule von Athen‟

Vasari berichtet, dass der Papst Raffael zunächst das Gemälde aufgetragen habe, „in dem die Theologen die Philosophie und die Astrologie mit der Theologie vereinen und in dem alle Weltweisen dargestellt seien, die in verschiedener Weise miteinander disputieren."Während man früher davon ausging, dass mit dem in sich widersprüchlichen Angaben Vasaris die Disputa del Sacramento gemeint wäre, überwiegt heute die Ansicht, dass es die seit dem 17. Jahrhundert als Schule von Athen bezeichnete Lünette war, die als „Probestück“ entstand.

Im Zentrum der Komposition dieses berühmtesten Wandbildes der Stanzen steht der Disput zwischen dem gen Himmel weisenden Platon, der ein als „Timaios“ gekennzeichnetes Buch im Arm hält, und dem seine rechte Hand nach vorn streckenden Aristoteles, dem als Attribut die „Ethica“ zugeordnet ist. Weitere antike Philosophen und Mathematiker, deren Identifikation durch ihre antike Porträttradition als gesichert gelten kann, darunter Sokrates, Pythagoras, Euklid und Diogenes, Zoroaster und Ptolemäus, verteilen sich auf die seitlichen Gruppen und die unteren Ebenen und mischen sich mit zahlreichen kleinen Gruppen von Zuhörern, Fragenden und Lernenden. Besonders auffällig ist, dass sich die Gruppen mit Kindern und Jünglingen auf der unteren Stufe befinden, während in der oberen Reihe „das freie Wort in freier Rede, Dialog und Diskussion“veranschaulicht wird. Dazu kommen namenlose Handlungsträger und Symbolfiguren für die verschiedenen Altersstufen und geistigen Zustände des Zuhörens, Ergriffenseins oder der Anteilnahme, die den Disput innerhalb einzelner Gruppen akzentuieren. Die einzelnen Gruppen, die sich jeweils um eine zentrale Figur scharen, scheinen ausschließlich mit sich beschäftigt, ohne mit anderen Gruppierungen des Bildes zu kommunizieren. Daher wirkt das Ganze wie eine Konstellation, die ein unbeteiligter und ungesehener Betrachter wahrnimmt, wenn er das Geschehen auf einem Marktplatz oder in auf dem Platz vor einer Kirche beobachtet, die auch schon in der älteren Malerei beliebte Bühnenschauplätze für den Auftritt von „Volk“ waren.

Wie andere Maler vor ihm hat Raffael sein Selbstbildnis, deutlich am Blick auf den Betrachter erkennbar, in eine Randgruppe eingefügt. Vasari zufolge hat er es mit Hilfe eines Spiegels gemalt. Vasari erwähnt darüber hinaus die Bildnisse Bramantes in der Gestalt des meistens mit Euklid identifizierten glatzköpfigen Mannes in der rechten Gruppe des Vordergrundes, der mit dem Zirkel, dem Attribut des Baumeisters, einen Kreis auf eine Schiefertafel zeichnet. Der sich hinter ihm herabbeugende Jüngling habe die Gesichtszüge des Markgrafen Federico II Gonzaga von Mantua. Von späteren Autoren sind eine Reihe von weiteren und auch abweichenden Identifizierungen vorgenommen worden, und zwar sowohl im Hinblick auf die antiken Philosophen und Mathematiker als auch im Hinblick auf die Zeitgenossen, die ihnen ihre Gesichtszüge geliehen haben. Davon sind jedoch letztlich nur wenige überprüf- und haltbar. Deutlich lassen sich Leonardo da Vincis Gesichtszüge in der Figur Platos erkennen. In dem auf einen Steinquader gestützten Denker, der in sich gekehrt auf vorderster Ebene sitzt, so als ob er darüber nachdenkt, was er auf das vor ihm liegende, bereits teilweise beschriebene Papierblatt schreiben wird, wird das Porträt Michelangelos vermutet. Raffael hat diese Figur, in deren ungeschlachter Monumentalität sich die Auseinandersetzung mit Michelangelos Sixtinischer Decke >L.XII.2 zeigt, nachträglich in das Fresko eingefügt, wie der Vergleich mit dem Karton zeigt, wo diese Stelle noch leer ist.

Die gemalte Architektur, die mit ihren kassettierten Tonnengewölben und der toskanischen Ordnung von Doppelpilastern und der Tiefenstaffelung deutlich von Bramante beeinflusst ist, dem Vasari auch ihre Erfindung zuschreibt, wölbt sich so machtvoll über die Komposition, dass sie die unterschiedlich agierenden Gruppen formal zusammenbindet. Anders als in der ohne architektonisches Beiwerk komponierten Disputa del Sacramento bleiben die untere und die obere Zone der monumentalen Lünette jedoch voneinander getrennte Bereiche. Teilweise erklärt sich dieses Phänomen aus dem Arbeitsprozess. Der architektonische und der figürliche Teil entstanden tatsächlich in zwei sukzessiven Arbeitsphasen. Zunächst wurden die Fluchtlinien für die Herstellung des perspektivischen Prospekts durch Fäden festgelegt, die mit Nägeln fixiert und in den feuchten Putz so eingedrückt wurden, dass ihre Spuren heute noch sichtbar sind. Die Ausführung dieses Teils konnte auch ein Gehilfe übernehmen. Tatsächlich zeigt der Karton, dass sich Raffael während der letzten Phase der Ausführung auf den figürlichen Teil konzentriert hat.

Zu den formalen Vorläufern der Schule von Athen gehört Lorenzo Ghibertis Relief mit dem Besuch der Königin von Saba bei Salomon. Vergleichbar ist vor allem die horizontale Trennung der Bildzonen, die der Figuren bzw. der Architektur zugewiesen sind sowie die auf beide Figuren bezogene Perspektive der Hintergrundarchitektur. Dazu kommt die zentrale Positionierung der beiden Protagonisten im Mittelgrund, die auf einem Treppenabsatz stehen und die symmetrisch auf zwei Bildpläne verteilten vier Gruppen. Der Vergleich lässt jedoch Ghibertis Relief als altertümlich und steif erscheinen und verdeutlicht, wie es Raffael gelingt, eine große Anzahl von Figuren so zu arrangieren, dass sie dem Bild Ereignischarakter verleihen, obwohl eigentlich nichts geschieht. anders als Ghibertis chorartig angeordnetes Gefolge, das 80 Figuren in vier statische Formationen aufteilt, sind seine 58 Personen nicht Statisten oder Gefolge, sondern einzeln agierende Individuen in unterschiedlichen Gruppierungen. Als weitere formale Vorbilder der Schule von Athen gelten Ghirlandaios Verkündigung an Zacharias und Pinturicchios Disputatio der hl. Katharina von Siena in den Borgia-Gemächern.

Bis heute fasziniert die Rätselhaftigkeit des Gemäldes und die Schwierigkeit seiner Einordnung in klare inhaltliche und formale Kategorien Die Unvereinbarkeit der „Figuren, die niemals zur selben Zeit denselben Raum betreten haben können“ mit der Handlung, die sie vollziehen, war der Grund für die zahlreichen Versuche, „eine ›Historia‹ hinter Raffaels Gemälde aufzuspüren“. Obwohl das Bild lesbar erschiene, da es Figuren zeigt, die alle mit diskursiven Handlungen beschäftigt sind, sei es eben gerade nicht les- und verstehbar. Jacob Burckhardt hatte das gestalterische Prinzip der Schule von Athen mit der künstlerischen Freiheit erklärt, die dem Genie des „größten Künstlers“ zugestanden wurde. Heute wird die „Schule von Athen“ dagegen stärker im Kontext des gesamten Bildprogramms der Stanza della Segnatura gesehen. Sie ist der Personifikation der Philosophie zugeordnet, die zusammen mit Poesia, Theologia und Justitia in den Tondi des Gewölbes dargestellt ist.

 

zu 3. Die "Disputa del Sacramento"