Die Fresken der Cappella Paolina

Bereits vor der Vollendung des Jüngsten Gerichts hatte Paul III. den Plan zu einem weiteren Auftrag an Michelangelo gefasst. Es handelte sich um die Ausmalung der Sakramentskapelle des Vatikanischen Palasts, die damals als Konklavekapelle und als päpstliche Privatkapelle diente. In den Jahren von 1542 bis 1545 bzw. 1546–1549 freskierte Michelangelo hier die seitlichen Wandfelder des Hauptraumes mit zwei nahezu quadratischen Wandbildern von beträchtlichen Dimensionen (6,25 x 6,61 m). Ihre Thematik bezieht sich auf die Apostelfürsten Petrus und Paulus, aus deren Biographie zwei Ereignisse dargestellt sind: Die Szene der Blendung und Bekehrung des Saulus / Paulus und die Kreuzigung Petri. Als Grund für diese Kombination wird angenommen, dass Paul III. hier vor allem seinen Namenspatron ehren wollte, mit dem er sich auch in persönlicher Hinsicht identifizierte. In der von Raffael entworfenen Teppichserie in der Sixtinischen Kapelle, die ebenfalls der Gegenüberstellung der Lebensgeschichte der beiden Apostelfürsten gewidmet ist >L.XIII.6, fehlt die Szene der Kreuzigung Petri. Daher geht ein Teil der Michelangelo-Forschung davon aus, dass Michelangelo die Wahl des Themas beeinflusst habe. Eine plausible Erklärung für die Wahl der Kreuzigung Petri als Pendant zur Bekehrung des Saulus ergibt sich aus der ursprünglichen Funktion der Kapelle als Ort des Konklaves, an dem Petrus als erster römischer Bischof nicht fehlen durfte. Der zum Zeitpunkt des Auftrages 75-jährige Michelangelo hat, wie Vasari schreibt, die beiden Wandfelder ohne Gehilfen ausgeführt und aus diesem Grund auf alles erzählerische Beiwerk verzichtet. Ähnlich wie im Jüngsten Gericht ist die gebirgige Landschaft, in der sich die beiden Ereignisse abspielen, von äußerster Kargheit. In der zweizonig angelegten Komposition der Bekehrung Sauls verursacht die himmlische Welt, bestehend aus zahlreichen, heftig bewegten Engeln, in deren Mitte Christus herabschwebt, im Gefolge des Saulus größte Verwirrung. Michelangelo setzt hier erneut das Arsenal heftig gestikulierender und agierender Figuren ein, das seit dem Karton zur Schlacht von Cascina >L.XI.4 zu seinem Repertoire gehörte. Obwohl er einige Motive von Raffaels Darstellung des gleichen Themas in der Teppichserie >L. XIII.6 übernommen hat, zeigen sich grundsätzliche Unterschiede. Betont Raffael durch zwei deutlich voneinander getrennte Gruppen die dramatische Spannung des Vorganges, und bleibt bei ihm die Bildmitte dem von oben in das Geschehen eingreifenden Christus überlassen, so nimmt in Michelangelos Komposition das erschreckt in den Hintergrund fliehende Pferd den formalen Mittelpunkt ein. Daraus wurde gefolgert, dass Michelangelo die Konventionen der Bildkomposition bewusst negiert habe, um zu einem „metaphysischen Stil“ zu kommen, bei dem die körperliche „disorganization“ die Spiritualität visuell veranschauliche. Jedoch könnten das willkürliche Abschneiden von Körpern, die Sprünge in den Größen der Figuren, das Abrutschen des vorderen Bildplans und die Negation der perspektivischen Bezüge auch als genau kalkulierte Antwort auf die ungünstigen Proportionen des Raums (10 m breit) gesehen werden, die keine frontale Betrachtung der Bildfelder erlauben. Von der Befreiung der Bildfiguren aus dem Regelwerk der Einheitsperspektive gingen auf jeden Fall wichtige Impulse aus, die von der nachfolgenden Generation von Malern und besonders von Tintoretto aufgegriffen und weiterentwickelt wurden.

 

zu 9. Michelangelos historische Bedeutung