Die Aufträge Leos X. in Florenz

Im November 1515 kam Michelangelo im Gefolge Leos X. Medici nach Florenz und wurde dort vom Papst mit der Erhebung in den erblichen Adelsstand geehrt. Leo X., der nahezu drei Monate in seiner Heimatstadt verbrachte und während dieser Zeit im Familienpalast gegenüber der Kirche San Lorenzoresidierte, wurde durch eine von Jacopo Sansovino und Andrea del Sarto zu seinem Empfang geschaffene Festdekoration für die Fassade von San Lorenzo dazu veranlasst, die Errichtung einer steinernen Fassade dieser als Familienkirche der Medici geltenden Kirche in Angriff zu nehmen. Verschiedene Künstler lieferten Entwürfe dafür, darunter Giuliano da Sangallo (†1516), Antonio da Sangallo d. Ältere und Raffael. Beauftragt wurde jedoch Michelangelo, der an der Konkurrenz nicht teilgenommen hatte und der bis dahin nur eine kleine Kapelle für den Papst in der Engelsburg errichtet hatte. Seine Entwürfe für die Fassade zeigen, dass er sich allmählich von dem Vorbild des Projekts von Giuliano da Sangalloentfernte. Das Endprojekt zeigt eine wandartig geschlossene zweigeschossige Fassade mit hoher Attika, die dem basilikalen Bau als breiter Riegel vorgelagert werden sollte, aus dem nur ein flacher mittlerer Giebel herausragt. Laut Vertrag vom 19. Januar 1518 war ein umfangreiches skulpturales Programm mit 22 Figuren geplant, davon sechs Sitzfiguren in Bronze, sowie sieben Marmorreliefs. Neben dem Florentiner Stadtheiligen und den Kirchen- und Medici-Patronen sollten die heiligen Petrus und Paulus und die vier Evangelisten dargestellt werden. Wie sehr sich Michelangelo für die neue Aufgabe begeisterte, zeigt ein Brief von 1517, in dem er erklärt: „Ich habe den Mut, dieses Werk der Fassade von San Lorenzo so zu gestalten, daß es die Krone aller Architektur und Skulptur von ganz Italien sei“. Das nach seinen Anweisungen ausgeführte Holzmodell, das ursprünglich die wächsernen Bossierungen des geplanten skulpturalen Dekors enthielt, macht deutlich, dass sich hinter der wandartigen Fassade eine Vorhalle nach dem Vorbild von San Andrea in Mantua >L.VI.3 verbergen sollte. Die Bedeutung von Michelangelos architektonischen Entwürfen zur Fassade von San Lorenzo wird heute darin gesehen, dass sie „Michelangelos erste Schritte aus der klassischen Welt der Hochrenaissance in die des Manierismus“sind.

Völlig unerwartet löste Leo X. am 12. März 1520 den Vertrag mit Michelangelo auf. Noch im gleichen Monat erteilte er ihm jedoch den Auftrag für eine Familienkapelle der Medici, die in Symmetrie zu Brunelleschis Sakristei >L.IV.3 an die Nordseite von San Lorenzo angefügt werden sollte. Als Grund für die Entscheidung, die Fassadenplanung zugunsten der allgemein als „Neue Sakristei“ bezeichneten Kapelle aufzugeben, gilt der Tod der Herzöge Giuliano (1516) und Lorenzo (1519), an die sich die Hoffnungen Leos X. auf die neue dynastische Linie der Medici in Florenz gegründet hatten. Die treibende Kraft dieses Projekts war Kardinal Giulio de’ Medici, der zunächst die Absicht hatte, hier auch die Grabstätten Leos X. (†1521) und seiner selbst zu errichten. Die architektonische Struktur des 1524 vollendeten Baues weist enorme Unterschiede gegenüber Brunelleschis „Vorbild“ auf. Obwohl der Raumtypus nicht wesentlich von dem Vorgängerbau abweicht, erreichte Michelangelo durch die „Tabernakelfenster“ in den Schildwänden und durch die Umkehrung des Größenverhältnisses zwischen Türen und Wandnischen eine neuartige Raumwirkung. Dazu tragen vor allem die Lichtverhältnisse bei. Vier große Fenster in der Kuppel sorgen für eine strahlende Helligkeit, die Brunelleschis Raum fehlt. Sie kommt nicht nur den Architekturgliedern in den Wandflächen zugute, die sich verselbständigen und gegenüber der Wandfläche ein Eigenleben führen, sondern war auch eine notwendige Voraussetzung für den reichen Skulpturenschmuck der drei Grabmäler, die als Wandmonumente in die flachen, von Rundbögen überfangenen Nischen gesetzt wurden. Die Brüche mit den architektonischen Konventionen und Proportionen sowie der Stilpluralismus der einzelnen Elemente dieser Architektur hat Vasari als Befreiungsschlag empfunden: die Architekten sollten Michelangelo ewig dafür dankbar sein, dass er sie von Ketten und Schlingen gelöst habe, aus denen sie sich bis dahin nicht befreien konnten.

Noch besser – so Vasari – sei ihm dies in der Architektur der gleichzeitigen errichteten Biblioteca Laurenziana und ihrem Vestibül gelungen. Die plastische Durcharbeitung der Architektur ist hier bis zum Äußersten gesteigert. Der öffentliche Bibliothekssaal, der nach dem Willen Papst Clemens‘ VII. die kostbaren Bestände der Familienbibliothek der Medici aufnehmen sollte, wurde von 1523 bis 1524 nach Michelangelos Plänen errichtet. Die Rhythmisierung der Wände durch eine große Pilasterordnung und eng gestellte Fenster generiert einen Raumkörper, dessen Sprache ebenso streng wie monumental ist. Diese Wirkung wird noch durch das Vestibül überboten, das den triumphalen Auftakt zu dem im ersten Stock befindlichen Saal bildet. Seine Wände sind von einer großen toskanischen Doppelsäulenordnung aus dunkler pietra serena gegliedert, die mit leeren Tabernakelnischen alterniert. Die wuchtige Plastizität der Doppelsäulen, die in die Wände wie in „Wandschränke“ (Jacob Burckhardt) eingespannt sind, lässt sich formal mit den Gefangenen im Untergeschoss des Juliusgrabes vergleichen. Die dreiteilige Treppe, die das Vestibül durchschneidet, auch sie ein Gebilde, das eher skulptural als tektonisch wirkt, wurde auf der Grundlage eines Tonmodells von Michelangelo erst von 1553 bis 1558 durch Bartolomeo Ammannati ausgeführt.

Nach einer mehr als vierjährigen Planungsgeschichte für die Grabmäler der Neuen Sakristei, bei der unterschiedliche Konstellationen durchgespielt wurden , begann Michelangelo im April 1524 mit der zügigen Ausführung des skulpturalen Dekors, so dass 1526 vier Figuren, nämlich die Statue der Maria mit dem Kind, der Herzog Lorenzo sowie die zu seinem Monument gehörigen Personifikationen von Morgen- und Abenddämmerung nahezu vollendet waren. Im Juni 1526 wurden die Sitzfigur des Herzogs Giuliano und die zugehörigen Personifikationen des Tages und der Nacht begonnen. 1531 waren auch sie größtenteils vollendet, während die vier Flussgötter, die ebenfalls für die Herzogsgrabmäler vorgesehen waren, nur in Modellen vorhanden waren. Vom figürlichen Programm des Doppelgrabmals für die sogenannten Magnifici (Giuliano und Lorenzo de'Medici) existierte bei Michelangelos endgültigem Abschied von Florenz im September 1534 nur die Gruppe der Maria mit dem Kind. In der Lünette über der von den nach Modellen Michelangelos ausgeführten Schutzheiligen der Medici, Cosmas und Damian gerahmten Madonnenfigur sollte eine von Michelangelo entworfene Auferstehung Christi als Gemälde dargestellt werden. Ein Grund für die Verzögerungen, die zum vorzeitigen Abbruch der Arbeit führten, waren die politischen Unruhen und Umbrüche der Jahre 1527–1530, die auch Michelangelo – auf der Seite der Medici-Gegner – involvierten >L.VIII.5. Da der Künstler nach 1534 nicht mehr zur Rückkehr nach Florenz zu bewegen war, entschloss man sich 1546 zu einer Aufstellung, die im Wesentlichen seinen Entwürfen folgte und die sich in die bereits vorhandene architektonische Struktur der Monumente einfügte. Es war dann Giorgio Vasari, der sich seit seinem Eintritt in den Dienst Cosimos I. (1554) für die Vollendung der Neuen Sakristei und für ihre Nutzung durch die Künstler einsetzte. Er erreichte es sogar, dass die 1563 gegründete Accademia del Disegno einige Jahre lang hier ihre Sitzungen abhielt.

Auf den Längswänden der Kapelle befinden sich die beiden Einzelgrabmäler für die Herzöge Lorenzo (†1519) und Giuliano (†1516), auf der Eingangswand das architektonisch unausgeführte Doppelgrabmal für die Magnifici, dessen geplante Gestalt sich anhand der Entwürfe Michelangelos rekonstruieren lässt. Die beiden Sitzfiguren der Herzöge stellen idealisierte Abbilder der mit römischen Rüstungen ausgestatteten Verstorbenen dar, die deutlich als gegensätzliche Charaktere konzipiert sind. Der in nachdenklicher Geste gegebene Lorenzo symbolisiert die vita contemplativa, der einen Kommandostab haltende Giuliano lässt sich mit der vita activa assoziieren. Auf den gespannten Segmentbögen der beiden Sarkophage unterhalb der Sitzstatuen lagern die nackten Figuren eines Mannes und einer Frau. Zum Grabmal des Giuliano gehört das „betagte“ Paar von Nacht und Tag, das nicht ganz vollendet wurde. Die allegorische Bedeutung der Figuren ergibt sich aus einem Skizzenblatt von Michelangelo, das er selbst folgendermaßen beschriftet hat: „Himmel und Erde – Tag und Nacht sprechen und sagen: wir haben mit unserem schnellen Lauf den Herzog Giuliano zum Tode geführt; es ist wohl recht, dass er dafür Rache nehme, wie er es tut, und die Rache ist diese: da wir ihn getötet haben, so hat nun er in seinem Tode uns das Licht genommen und hat mit seinen geschlossenen Augen die unseren verschlossen, so dass sie nicht mehr über der Erde leuchten. Was hätte er also aus uns gemacht, wenn er am Leben geblieben wäre?“

Tatsächlich sind nicht nur Giulianos Augen geschlossen, sondern auch die der Nacht, die ihr Haupt senkt; beim Tag, dessen Gesicht unvollendet ist, kann man hierzu keine Aussage machen. In Analogie zu den beiden Allegorien von Tag und Nacht sind die auf dem Sarkophag des Lorenzo lagernden Figuren von Vasari als Morgenröte und Abendröte gedeutet worden. Condivi gibt ihnen eine andere Bedeutung: „Auf ihren Deckeln liegen überlebensgroße Figuren, ein Mann und eine Frau, welche den Tag und die Nacht und beide zusammen die alles verzehrende Zeit darstellen.“Die vier nackten Figuren waren der Hauptgrund für die lang anhaltende Attraktivität der Neuen Sakristei für die Künstler. Zahlreiche Zeichnungen und Beschreibungen belegen die Wirkung, die von ihnen bis heute ausgeht, und die nicht nur ihrer innovativen künstlerischen Gestaltung, sondern auch ihrer inhaltlichen Rätselhaftigkeit zuzuschreiben ist. Trotz ihres augenscheinlich paganen Charakters ordnen sie sich dem religiösen Konzept unter, das dem unvollendet gebliebenen Bildprogramm der Kapelle zugrunde lag: „Die Allegorien, die sich um die Sarkophage und die Figuren der Verstorbenen gruppieren (…), repräsentieren im großen und ganzen die in Trauer versunkene geschaffene Natur (…). Enthoben sind dieser Trauer der irdischen Welt die thronenden Herzöge. Beide erscheinen in ihrer Entrücktheit keineswegs auf sich selbst beschränkt, sondern sind schauend und reflektierend der Madonna und dem Kind und den Heiligen – als dem eigentlichen Zielpunkt der ganzen Figurenhierarchie – zugewandt.“

 

zu 7. Das Jüngste Gericht