Der „Manierismus“ in der Palastarchitektur

Charakteristisch für einige der bedeutendsten Architekten der Renaissance ist ihre parallele Tätigkeit als Maler oder als Bildhauer. Angefangen mit Bramante >L.IX.1-2, gilt dies für Raffael und seinen Schüler Giulio Romano wie auch für den Sienesen Baldassare Peruzzi, einen Schüler des Francesco di Giorgio Martini (1439–1502), der ebenfalls als Maler, Bildhauer und Architekt tätig gewesen ist. Auch wenn die Auswirkungen einer Doppel- oder Dreifachbegabung auf die künstlerische Praxis in jedem Fall anders zu bewerten sind, hat es den Anschein, dass die Beherrschung mehrerer Kunstgattungen den kreativen Impetus stärkte und so die virtuose Abweichung von der Norm begünstigte, die als kennzeichnend für den Manierismus (von maniera = persönlicher Stil) gilt. Giulio Romano war der erste Architekt, der den Regelbruch als Ausdruck der individuellen maniera eingesetzt hat. Deutlich wird dies an seinem Entwurf (1520) für die Gartenfront des Palazzo Adimari-Salviati in der Via della Lungara, deren Rhythmisierung und axiale Asymmetrien Indizien für die Lockerung des Kanons sind. Zur Grundlage der Virtuosität wird die Zeichnung (disegno), die Vasari – auch er ein Beispiel für die Doppelbegabung als Maler und Architekt – zum „Vater der Künste“ gekürt hat. Eines der ersten Multitalente, das kompromisslos der individuellen maniera folgte, war Michelangelo, der dies nicht an der Skulptur, sondern an der Malerei demonstrierte >L.XII. Als er sich ab 1518 zunehmend mit architektonischen Aufgaben konfrontiert sah, entwickelte er in der plastischen Modellierung der Wand eine höchst persönliche und artifizielle Handschrift, die Anspruch auf das Attribut manieriert erheben kann.

 

Die konstruktiven und ästhetischen Neuerungen, die die Lockerung der Regeln und der Mut zur Abweichung vom Kanon ermöglichten, führt der 1533–1536 errichtete Palazzo Massimo alle Colonne von Baldassare Peruzzi vor Augen, der als „Meisterwerk des römischen Manierismus“ gilt. Gelegen an der Via papalis, die von S. Giovanni in Laterano nach St. Peter führt und an dieser Stelle eine Kurve beschreibt, setzt seine originelle Fassade vor allem durch ihre dem Straßenverlauf folgende Krümmung einen markanten Akzent. Auf die seit Alberti und Bramante übliche Verblendung der Fensterachsen mit einer Ordnung wird ebenso verzichtet wie auf die horizontale Geschosseinteilung. Im Erdgeschoss erhält die von einer regelmäßig flachen Quaderung überzogene helle Fassadenfläche ein kontrastreiches Gegengewicht. Der mittlere Teil des Erdgeschosses öffnet sich als eine Kolonnade aus dorischen Säulen mit unterschiedlich großen Interkolumnien, durch die man ein quergelagertes dorisches Vestibül (vestibulum) betritt, das noch zum Außenbereich gehört. Das kräftige Gebälk und die vorspringenden Fenstersockel über dem Gesims des piano nobile umschließen die hohe, fast biegsam wirkende Wandfläche wie ein Band. Den großen Fenstern des piano nobile folgen zwei Reihen kleiner querrechteckiger Fenster, die der Schauwand einen anspruchslosen Charakter geben. In auffälligem Kontrast dazu betont die dorische Kolonnade den hohen Rang der Familie, die sich antiker Wurzeln rühmte. Durch ihre konvexe Dehnung wirkt die Fassade des in Grundriss und Lage ungünstig disponierten Gebildes breiter als sie in Wirklichkeit ist. Hieran zeigt sich Peruzzis langjährige Erfahrung als Theater- und Perspektivmaler, die er auch bei der Binnengestaltung des Palastes nutzte. Die Monumentalität und Sparsamkeit seiner Formensprache gibt der von den Nachbargebäuden eingeschlossenen Anlage Großzügigkeit und Regelmäßigkeit: Ein langer Korridor (andito) führt in den mit Loggien versehenen Innenhof, der alle größeren Räume belichtet. Mit seiner demonstrativen Abkehr vom Kanon der Renaissance blieb der wenige Jahre nach dem Sacco di Roma >L.VIII.8 auf den Ruinen seines Vorgängerbaues errichtete Palazzo Massimo ein Unikum. Dennoch wird sein Einfluss auf die folgenden Generationen von Architekten als sehr bedeutsam eingeschätzt.

 

zu 4. Paläste römischer Prägung in Norditalien

Manierismus

Von Jacob Burckhardt im „Cicerone” (1855) eingeführter Begriff für die Kennzeichnung der italienischen Kunst in der Nachfolge von Raffael und Michelangelo. Die ursprüngliche negative Konnotation des M. wurde im 20. Jh. durch H. Wölfflin, A. Riegl und W. Friedlaender korrigiert, die erstmalig die formalen Eigentümlichkeiten dieser Epoche herausarbeiteten. Ausgehend vom Wort maniera (Manier = Art, Stil), mit dem seit der frühen Renaissance die individuelle Formensprache eines Künstlers gemeint ist, wird die „selbstreflexive Kunst“ des M. (Pfisterer 2003, 230) heute in seiner Modernität gewürdigt.

 

Literatur: Ulrich Pfisterer, „Manierismus“, in U. Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft: Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart Weimar 2003, S.227–23.

Zeichnung (Disegno )

In der zweiten Ausgabe der „Vite“ von 1568 bezeichnet Vasari die Zeichnung („il Disegno“) als „Vater unserer drei Künste Architektur, Bildhauerei und Malerei, der aus dem Geist hervorgeht (…)“. Er ist für ihn die „Idee aller Dinge der Natur“ und infolgedessen „eine anschauliche Gestaltung und Darlegung jener Vorstellung, die man im Sinn hat, von der man sich im Geist ein Bild macht und sie in der Idee hervorbringt.“ Diese Konzeption der Zeichnung als „Erkenntnisform des Geistes“ (Pfisterer), die weit über L. B. Albertis Definition der Zeichnung (segno) als Punkt und Linie hinausgeht, wurzelt in den Schriften des Florentiner Dichters und Philosophen Angelo Poliziano.

Matteo Burioni (Hg.): Giorgio Vasari, Einführung in die Künste der Architektur, Bildhauerei und Malerei. Die künstlerischen Techniken der Renaissance als Medien des disegno, Berlin 2006, S. 98: Ulrich Pfisterer: Die Kunstliteratur der italienischen Renaissance. Eine Geschichte in Quellen, Reclam ub 18236, Stuttgart 2002, S. 101–103.