Die späteren Bauphasen

Mit jedem Wechsel in der Bauhütte und auf der Cathedra Petri kamen neue Vorschläge auf den Tisch, die zum Teil dazu führten, dass das Geplante verworfen oder das bereits Vorhandene wieder abgerissen wurde. Dieser Vorwurf wurde vor allem gegenüber Michelangelo erhoben, der nach seiner Berufung zum Architekten für St. Peter (1.1.1547) den unter Raffael und Antonio da Sangallo d. J. begonnenen Umgang des Südarmes niederlegen ließ und dessen endgültiges Projekt die völlige Aufgabe der Umgänge der Absiden besiegelte. Michelangelo fiel so die Aufgabe zu, das Vorhaben seines Widersachers Bramante zu Ende zu führen, das ihn daran gehindert hatte, sein eigenes Traumprojekt >L.XII.1 zu realisieren. Es ging ihm darum, die mit megalomanen Ausmaßen verbundene Kleinteiligkeit der Formen, die das St.Peter-Projekt vor allem unter Antonio da Sangallo angenommen hatte, durch einfache und klare Bauglieder zu ersetzen, die dem monumentalen Anspruch des ursprünglichen Projekts genügten. Dazu trugen die einheitliche und kolossale Pilasterordnung des Außenbaues mit ihrem optisch als ein Band wirkenden Gebälk bei sowie die Attika, die allerdings nicht in der von Michelangelo beabsichtigten glatten Form realisiert wurde. Er verglich die Glieder der Architektur mit den Gliedern des Menschen, d.h. er vertrat die Ansicht, dass ein Bauwerk ein Organismus sei, in dem alle Funktionen miteinander koordiniert werden müssen.

Die synthetische Sicht auf das Bauwerk, die auch damit erklärt wird, dass Michelangelo in erster Hinsicht als Bildhauer argumentierte, macht verständlich, warum er Bramantes Entwurf als den einzig ausführungswerten Plan anerkannte. Dies verdeutlicht der Kommentar, den er in einem Brief an den Leiter der Baukommission für St. Peter niedergelegt hat. Condivi zufolge verdächtigte Michelangelo seine Vorgänger, vor allem Antonio da Sangallo, dass für sie „die Baustelle ein Geschäft und ein Verdienstmittel war, das man hinauszuzögern trachtete, um es niemals zu seinem Ende zu bringen.“Während der siebzehn Jahre, die Michelangelo die Bauleitung ausübte, schritt der Bau trotz aller Spannungen innerhalb der Bauhütte zügig voran. Dazu trug auch die unbedingte Unterstützung des von Michelangelo ausgearbeiteten Plans durch die Päpste der Gegenreformation bei: Paul III., Julius III., Paul IV., und Pius IV. Michelangelos Projekt, das 1549 approbiert wurde und für das er Holz- und Tonmodelle angefertigt hat, die sich nicht erhalten haben, ist in den 1569 erschienenen Radierungen von Etienne Duperac überliefert, die bestätigten, dass nun ein verbindliches Modell existierte, nach dem der Bau zu Ende geführt werden konnte. Beim Tode Michelangelos (1564) war der Tambour bis zum Ansatz der Kuppel vollendet.

Die Stiche von Duperac zeigen, dass Michelangelo zunächst an Bramantes halbkreisförmiger Kuppel festgehalten hatte. Im Laufe der Zeit hat er sich jedoch stärker dem Konstruktionsprinzip der Florentiner Domkuppel angenähert, wie die Streckung der Kuppel und die markanten Rippen der Außenschale deutlich machen. Bei der Ausführung der Kuppel, die bereits in das Pontifikat Sixtus' V. fällt (1585–1590) und deren Architekten Giacomo della Porta und Domenico Fontana waren, wurde sie gegenüber diesem Projekt noch einmal gestreckt. Die Grundlage aller Variationen war das Holzmodell, das von 1558 bis 1561 gebaut worden war, um Michelangelos Projekt zu bewahren und seine Ausführung zu garantieren. Sowohl Michelangelo wie die späteren Architekten von St. Peter haben an diesem einzigen erhaltenen Modell Veränderungen vorgenommen. Die Baugeschichte von St.Peter kam erst 1626 mit der Verlängerung des Zentralbauplanes auf einen Longitudinalbau zum Abschluss. So setzte sich schließlich doch wieder die Idee des basilikalen Typs der konstantinischen Basilika durch. Die Kuppel verlor dadurch die Dominanz, die ihr Michelangelo in konsequenter Weiterführung des Bramanteprojekts gegeben hatte, und zwar sowohl innen wie außen. Jacob Burckhardt hat die Eigenart des frühbarocken Innenraumes trotz der Kritik an der Instrumentierung der Raumschale anschaulich charakterisiert und in seiner Einzigartigkeit gewürdigt.

Der Bau der Peterskirche hat einhundertzwanzig Jahre gedauert, eine Zeitspanne, die dem enormen Bauvolumen angemessen war und der auch dem Vergleich mit dem Florentiner Dom standhält, für dessen Errichtung sogar 146 Jahre benötigt wurden. Diese enorme Zeitspanne, die für Bauwerke dieser Größe und für die Lösung und Bewältigung der mit ihnen verbundenen bautechnischen, logistischen und ästhetisch- strukturellen Probleme benötigt wurde, hatte eine Reihe von produktiven Nebeneffekten, die das künstlerische Leben beflügelten. Ein paar von ihnen sind hier wenigstens zu nennen, allen voran Wettbewerb und Rivalität, die sich auch auf andere Bauvorhaben positiv auswirkten. Der kreative Schwung, der durch das Experimentieren in diesen Dimensionen verursacht wurde, betraf auch die technologischen Voraussetzungen, die ein Bauwerk dieser Größe – anders als Modelle und Zeichnungen – erforderte. Der Neubau von St.Peter war die größte Herausforderung, mit der die sakrale Architektur Italiens seit Brunelleschis Florentiner Domkuppel >L.IV.2 konfrontiert war. Das Bauwerk und die Baustelle wurden zum Schauplatz und zum Gegenstand künstlerischer und technischer Innovationen, die in den folgenden hundert Jahren bewältigt wurden und denen es zu verdanken ist, dass Rom zum neuen Gravitationszentrum der künstlerischen Entwicklung wurde. Angesichts dieser Perspektiven gewinnt das aus Größenwahn und Selbstüberschätzung geborene Projekt seine symbolische Bedeutung. Obwohl es oft genug am Rande der Tragödie und vor dem Abgrund des Scheiterns stand, wurde es kein Turm von Babel, sondern zum Symbol der verbindenden Macht des Glaubens und menschlicher Leistungsfähigkeit.

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