Die Mailänder Werke
In Mailand hat sich ein heute abgenommener Freskenzyklus von Kriegshelden (uomini d’arme)erhalten, der von den Quellen Bramante zugeschrieben wird. Seine früheste architektonische Invention ist ein 1481 datierter und in nur zwei Exemplaren erhaltener Kupferstich von Bernardo de’ Prevedari, der laut der lateinischen Signatur auf einer Zeichnung des „magistrum Bramante de Urbino“ basiert. Das mit figürlichen Motiven reich dekorierte Interieur einer gewölbten Pfeilerbasilika des Kreuzkuppelkirchentypus, die halb Tempel, halb christliche Kirche ist, wirkt nicht nur durch die im Stil Mantegnas gehaltene Staffierung mit Gruppen von Geistlichen, Edelleuten, Reitern und Fußvolk enigmatisch, sondern auch aufgrund des teilweise ruinösen Zustandes. Die Verschmelzung eines antiken Tempels mit einer christlichen Kirche wird als programmatisch gemeintes Manifest verstanden.
Bramantes erstes architektonisches Werk in Mailand war die zwischen 1478 und 1486 errichtete Kirche von S. Maria presso S. Satirosamt ihrer Sakristei, ein steiles zweigeschossiges Oktogon mit alternierenden Rechteck- und Rundnischen, die mit einem aufwändigen plastischen Dekor versehen wurde. Die linienbetonte Gliederung des Außenbaues verbindet den baulich heterogenen Komplex zu einer gestalterischen Einheit. Bramante fand für die Verbindung der neuen Kirche mit dem aus dem 9. Jahrhundert stammenden Zentralbau von San Satiro eine ungewöhnliche Lösung, zu der ihn die Lage des mittelalterlichen Baues in der Nähe einer öffentlichen Straße inspirierte. Abweichend vom zunächst geplanten axialen Anbau, der den Zentralbau als abgeschnürten Chor einbezogen hätte, drehte er die Kirche um 90° und gewann so ausreichenden Platz für eine dreischiffige Stufenhalle, die von einer Tonne überwölbt ist. Eine unbelichtete Flachkuppel über einer Vierung stellt die Verbindung zu dem Saalraum der ersten Planungsphase her, der damit zum Querhaus wurde. Da aufgrund dieser Umorientierung der Platz für eine Choranlage fehlte, wurde sie als eine in perfekter Zentralperspektive angelegte Illusionsarchitektur auf die nahezu flache Wand projiziert. Vorbereitet durch die Flachkuppel entfaltet der gemalte Chorprospekt, der die gebaute Architektur fortsetzt und komplettiert, vom Langhaus aus eine monumentale Wirkung, die von der spärlichen Beleuchtung des Raumes profitiert. Das Prinzip der kunstvoll inszenierten Augentäuschung, das Bramante seinen Lehrjahren in Urbino und in Mantua verdankte, befähigte ihn zu dieser genialen und phantasievollen Lösung, in der die virtuosen Illusionswelten des Barock vorweg genommen sind.
Ähnlich neue Wege ging Bramante in dem als Zentralbau angelegten Chorbau von S. Maria delle Grazie, der sich an eine niedrige gotische Basilika anschließt. Der großzügige Choranbau verleiht dem Innenraum eine Weiträumigkeit, die man hinter der breiten und gedrückten Fassade nicht vermuten würde. Das Problem, um dessen Bewältigung es hier ging, ist vergleichbar mit den Anlagen von Santissima Annunziata in Florenz >L.IV.4 oder dem Tempio Malatestiano in Rimini >L.VI.1, für die als Chorabschlüsse monumentale Kuppeln vorgesehen waren. In beiden Fällen konnte die Verbindung zwischen dem longitudinalen und dem zentralen Baukörper nicht glücklich gelöst werden. Der Vergleich der beiden früheren Bauten mit S. Maria delle Grazie macht den enormen Fortschritt deutlich, den Bramantes Lösung für das liturgisch und historisch fundamentale Problem des kompositen Kirchentypus bedeutet. Dank der weiträumigen und großzügigen Raumgestaltung und einer Oberflächenbespielung mit markanten geometrischen Motiven gelang hier erstmalig die von Francesco di Giorgio Martini als Ideallösung empfohlene Verbindung eines zentralen mit einem longitudinalen Baukörper.