1. Die Loggia des Waisenhauses

Versucht man, die Piazza Santissima Annunziata in Florenz mit den Augen Leon Battista Albertis zu betrachten, der die Stadt in „De re aedificatoria” mit einem Haus vergleicht, so erscheint sie mit ihrer regelmäßigen Anlage, ihren drei Portiken, den harmonischen Proportionen und den sie erschließenden Zugängen als direkte Umsetzung seiner Vorstellungen. Auf drei Seiten wird dieser nahezu quadratische Platz von luftigen Wandelhallen (Loggien) gerahmt, von denen jede ein Gebäude unterschiedlicher Bestimmung verdeckt. In der Hauptachse der Straße, die vom Dom auf den Platz führt, befindet sich die Vorhalle der Kirche Santissima Annunziata, welche die jüngste der drei Säulenhallen ist und die in ihrer heutigen Form erst am Ende des 16. Jahrhunderts erichtet wurde. Die beiden Loggien, die den Platz in seiner Längsausdehnung begrenzen, erheben sich auf einem mehrstufigen Podest und sind dem ehemaligen Kloster der Serviten und dem ehemaligen Findelhaus (Ospedale degli Innocenti) vorgelagert. Der beim Blick auf die Kirche linkerhand liegende Portikus stammt von Antonio da Sangallo d. Ä. und von Baccio d’Agnolo. Er entstand zwischen 1516 und 1519 nach dem Vorbild seines hundert Jahre älteren Pendants, Brunelleschis erstem bedeutenden Florentiner Bauwerk, das die repräsentative Platzfassade des Findelhauses bildet. Das Waisenhaus, das als erstes Waisenhaus Europas gilt und das über alle für die leiblichen und geistigen Bedürfnisse notwendigen Einrichtungen verfügte, war eine Gründung der Arte della seta, also der Zunft der Seidenmacher, der auch Brunelleschi angehörte. Sie vertrat ein Gewerbe, das zu den führenden Wirtschaftszweigen der Stadt gehörte. Das Bedeutsame an diesem Bau ist, dass er nicht als eine isolierte Wandelhalle oder als Portikus vor einem Gebäude konzipiert wurde, sondern als Teil einer Platzumbauung, die sich von Anfang an auf die Kirche ausrichtete, was auch daran deutlich wird, dass die Achse der Findelhausloggia parallel zur Ostflanke der Kirche verläuft . Auch wenn damals das gegenüber liegende Gebäude noch nicht geplant war, schuf Brunelleschis Loggia eine Vorgabe für die spätere Gestaltung des Platzes als theatrum, in dessen Mittelpunkt die Kirche steht.

Die Baugeschichte der zwischen 1419 und 1424 entstandenen Loggia ist durch Baurechnungsbücher und durch die Brunelleschi-Biographie von Antonio Manetti bis in Details bekannt. Begonnen als erster und prächtigster Teil des Ospedale degli Innocenti, erhielt die zunächst eingeschossig hochgeführte Loggia 1426 eine Notbedachung, die nach der Vollendung der hinter ihr liegenden Gebäude aufgestockt und im wesentlichen 1439 vollendet wurde. Der für diese Arbeiten zuständige Baumeister und Operario des Hospitals, Francesco della Luna, wurde von Manetti getadelt, weil er sich nicht genau an Brunelleschis Entwurf gehalten habe. Nach Manetti sah Brunelleschis Zeichnung eine Gliederung des Hauptgeschosses durch eine Pilasterordnung und einen Gebälkabschluss vor. Die Loggia selbst, die aus neun Säulenarkaden besteht, wird an ihren beiden Enden durch je eine korinthische Pilastertravée eingefasst, die ursprünglich geschlossen war und auf der ein Gebälk aufliegt. Letzteres zeigt die für Brunelleschi charakteristische Struktur, nämlich drei Faszien, darüber einen glatten und schmucklosen Fries, für dessen Dekor zunächst das aus antiken Sarkophagen bekannte Striegelmotiv vorgesehen war.Darüber folgt, abweichend von der klassischen Architekturgrammatik, ein einfaches Gesims, bestehend aus Wulst und Kehle, auf dem das Sohlbankgesims der Fenster aufliegt.

Die Fenster sind mit einem strengen und einfach gegliederten Giebel überdacht, dessen Vorbild die Fensterädikulen des Florentiner Baptisteriums sind. Manetti und Vasari übten vor allem an einem Detail der Gliederung der Loggia Kritik, da sie es als Verletzung der klassischen Architekturregel ansahen . Dies ist der Architrav, der aus drei flachen Bändern (Faszien) besteht und der wie ein in sich gestufter Rahmen am Ende der südlichen Pilastertravée rechtwinklig nach unten umbricht. Ähnlich wird auch der Fries an dieser Stelle zu einem geschlossenen Feld umgedeutet, indem der Wulst nach oben weitergeführt wird. Francesco della Luna, der dies zu verantworten hatte, berief sich laut Manetti auf das Vorbild des Baptisteriums, das während des 14. und 15. Jahrhunderts als ein ehemals dem Kriegsgott Mars geweihter römischer Tempel galt. Tatsächlich gehen viele von Brunelleschis Baumotiven auf Elemente des Baptisteriums zurück, so auch die Rundbogenfenster und der beschriebene Aufbau des Gebälks. Dies ist ein Indiz dafür, dass auch er das Baptisterium vielleicht noch für antik hielt.

Zum ersten Mal tritt an der Loggia des Findelhauses der nach antikem Vorbild proportionierte kannelierte korinthische Pilaster auf, der am Baptisterium in dieser Form nur in der Attika verwendet ist, während die Blendgliederung des Hauptgeschosses aus glatten und fast quadratischen Pfeilern besteht, über denen das Gebälk verkröpft ist. Brunelleschis vor die Wand gesetzter Pfeiler ist anders als am Baptisterium Gliederungselement einer übergreifenden Ordnung, der sich die auf mit Entasis und attischer Basis versehenen korinthischen Säulen ruhenden Arkaden der Loggia einfügen, auf denen zur Innenseite statt der in Florenz sonst üblichen Kreuzgratgewölbe Stutz- bzw. Hängekuppeln ruhen. Die Systematik dieser Gliederung wird an den Ansatzpunkten der Arkadenreihe deutlich. Es ist umstritten, ob das wohl spätere obere Geschoss, hinter dem sich der ehemalige Schlafsaal (Dormitorium) befand, durch eine kleine Pilasterordnung gegliedert sein sollte oder ob sich diese Pilastergliederung auf die beiden äußeren Travéen beschränkten, wie es die von der Brunelleschi-Forschung akzeptierte Rekonstruktion der ersten Bauphase zeigt. Auch wenn diese beiden äußeren Pilastertravéen, die ursprünglich auf beiden Seiten geschlossen waren, nur als rahmende Akzente der Loggia fungieren, die antike Ordnung also nicht zur Fassadengliederung des gesamten Baukörpers wurde, war damit ein Prinzip eingeführt, das von nun an verbindlich wurde. Seinen antiken Ursprung hat dieses Prinzip in den in Superposition auf die Wand geblendeten Ordnungen, wie sie etwa das römische Kolosseum aufweist.

Wichtig für die Wirkung des gesamten Platzes ist der siebenstufige Podest der Loggia degli Innocenti, der gleichsam die Sitzreihen eines Theaters bildet. Mit diesem erst 1457 errichteten Zugang, der nach Saalman aber bereits von Brunelleschi geplant war, machte die Findelhausloggia ihre neue Funktion als ein öffentlicher Raum sinnfällig, der dem karitativen Engagement der Bürger einen festlichen Rahmen gab. Als Motiv ist diese Konstellation an der Loggia de’Lanzi, der ehemaligen Loggia dei Priori, vorgebildet, die eine Bühne für die Notablen der florentiner Stadtregierung war. Zünfte und reiche Bruderschaften verfügten gleichfalls über solche Hallen. Von diesen sowohl im Gebäudeverband wie auch isoliert stehenden Loggien, die sich in der Regel auf einem Stufenpodest erheben, sind die ebenerdigen und meistens abgeschrankten Wandelgänge bzw. Portiken zu unterscheiden, die bereits im 14. Jahrhundert für Straßen und Krankenhäuser üblich waren und die hauptsächlich eine Schutzfunktion hatten (Florenz, Ospedale S. Paolo de’Convalescenti, 1490–1495). Auch in der privaten Architektur dienten Loggien (loggie gentilizie) als Schaufenster der sich außerhalb des Palastbereichs abspielenden Repräsentation. In Florenz gab es sehr viele solcher Bauten, von denen sich jedoch nur wenige Beispiele erhalten haben, darunter die Loggia Rucellai, die nach einem Entwurf von L. B. Alberti >L.VIII.8 errichtet wurde. Das Neuartige der Findelhaus-Loggia von Brunelleschi besteht darin, dass sie aus der Kombination dieser beiden Elemente etwas Neues schuf, nämlich eine Architektur des öffentlichen Raumes im Sinne der Städte, wie ihn Alberti theoretisch entworfen hat >L.III.3.

zu 2. Die Kuppel von S. Maria del Fiore

Super(Supra)position

 

„Unter dem Ausdruck Supraposition ist das Auftreten mehrerer Säulenstellungen übereinander an einem mehrgeschossigen Bau zu verstehen (nach Serlio 1566, IV, fol. 187 c).

„(…) Heute verbindet sich mit diesem Begriff auch der Gedanke an die klassische Abfolge der Säulenordnungen - toskanisch, dorisch, ionisch, korinthisch, komposit - wobei […] nicht alle fünf Ordnungen an einem Bau vertreten sein müssen. Ausschlaggebend ist vielmehr das Prinzip, daß jeweils die stärkere Ordnung die schwächere zu tragen habe.“ (Christiane Denker Nesselrath: Die Säulenordnungen bei Bramante (Diss. Bonn 1984), Worms 1990, S. 100, nach Forssmann 1961).

Antike Beispiele dieser Gliederung finden sich am Kolosseum, am Tabularium und am Marcellus-Theater in Rom, wo die Säulenordnungen auf massive Pfeilerarkaden appliziert sind. Entsprechend wird dieses Grundelement der Außengliederung als Tabularium- oder Theater-Motiv bezeichnet.

Entasis

 

Unter Entasis (griech. Anspannung) versteht man die von unten bis unterhalb der Schaftmitte hin zunehmende Schwellung der Säule. Die Säule wird dadurch in ihrer Funktion als tragendes Bauglied betont. Vitruv setzt die Entasis in Beziehung zur Breite der Kanneluren (Zehn Bücher über Architektur, 3-V, s. deutsch-lateinische Edition, hg. Curt Fensterbusch, Darmstadt 1976, S. 165). In der Architekturtheorie der Renaissance gilt die E. als Indiz für die Übernahme der Prinzipien der Antike.