Mensch und Natur

Eng mit einer neuen Wahrnehmung der Welt hängt der Prozess der Individualisierung zusammen. Die Überzeugung, dass der Mensch sein Leben frei gestalten könne, gehört zu den Grundpositionen des neuen Denkens. Einer der berühmtesten Texte über die neue Rolle des Menschen in der Welt stammt von Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) und handelt von der Erschaffung des Menschen: „Endlich beschloss der höchste Künstler, dass der, dem er nichts Eigenes geben konnte, Anteil habe an allem, was die einzelnen jeweils für sich gehabt hatten. Also war er zufrieden mit dem Menschen, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ‚Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. (…) Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten, du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“Für die Vorstellung vom autonomen und verantwortlich handelnden Individuum, das durch äußere Einflüsse gebildet wird, ist die Kunst ein fundamentales Instrument seiner Bildung. 

Anknüpfend an die Schwerpunkte, die seit Burckhardt mit der Entstehung und mit dem Charakter der Renaissancekultur verbunden werden, soll am Beginn die Auseinandersetzung mit der Antike und ihren geistigen Traditionen stehen, die eines der wichtigsten Vehikel war, das die moderate Emanzipation von der Absolutheit der christlichen Werte und der christlichen Moral bewirkte. Nach Pico della Mirandola bedurfte die sich in eigener Farbenpracht offenbarende Welt nicht mehr des Glaubens an die erniedrigende Abhängigkeit des Irdischen vom Jenseitig-Himmlischen. Der Akzent verlagert sich vom Schöpfer auf die Schöpfung. Das Sinnlich-Wahrnehmbare gilt nun als das Höhere. Mit dieser Sicht auf die Welt wurde auch ein anderer Blick auf die antike Welt und ihre materiellen Zeugen möglich.

Eine weitere Konsequenz der Emanzipation war ein neues Verhältnis zur Natur und zur Welt sowie zu den Schwierigkeiten, die der Mensch im Umgang mit ihr zu überwinden hat. Leon Battista Alberti >L.III.3, der in den Stunden der Muße technische Vorrichtungen und Apparaturen erfand, war überzeugt davon, dass der Mensch „für die Tätigkeit geschaffen sei, und dass es seine Bestimmung sei, nützliche Dinge zu produzieren“. Dahinter stand die Überzeugung, dass sich der Mensch durch schöpferische Tätigkeit steigere.

Ein wichtiger Anwendungsbereich für die Erfindung technischer Neuerungen und Maschinen war die Baukunst. Es wurden mechanische und hydraulische Werkzeuge zur Hebung und zur Bergung von Gewichten und Lasten erfunden. Die Erfinder dieser Geräte und neuen Werkzeuge waren Künstler, aber vor allem Architekten und Ingenieure. Einer der ersten Vertreter des neuen Berufsstandes des Ingenieurs (ingegnum= Erfindung) war Mariano di Jacopo, genannt Taccola, der sich selbst als Archimedes von Siena bezeichnete. Viele seiner Zeichnungen beziehen sich auf antike Texte, die er mit Hilfe seiner Konstruktionsskizzen zu verstehen versuchte, um so das praktische Wissen über die technologischen Errungenschaften der Antike wiederzuerlangen.

Dass einer seiner Gesprächspartner der Florentiner Architekt Brunelleschi >L.III.5 war, ergibt sich aus dem in seinem Manuskript „De ingeneis” enthaltenen Protokoll ihrer Unterredung. Brunelleschi beklagt sich hier, dass die Erfindungen nicht geschützt seien und dass sich häufig diejenigen als Erfinder ausgeben, die sich diese Erfindungen nur zunutze gemacht haben.

Die Früchte der gegenüber der früheren Zeit veränderten Blickweise auf die sichtbare Welt und auf den Menschen und seine Tätigkeiten artikulierten sich vor allem in der Trias der drei Künste, die trotz mancher Verschiebungen auch heute noch als Kernbereiche künstlerischer Tätigkeit gelten: Architektur, Skulptur und Malerei. Die Veränderungen, die sich während des 15. Jahrhunderts in der theoretischen Grundlegung und in ihrem Verständnis und ihrer Ausübung vollzogen, sind im Folgenden aufzuzeigen.

zu 2. Aneignung der Antike