Rezension

Veronica Peselmann: Der Grund der Malerei. Materialität im Prozess bei Corot und Courbet, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2020, 222 S., ISBN 978-3-496-01628-1, 49.00 EUR
Buchcover von Der Grund der Malerei
rezensiert von Jennifer Chrost, Kunstsammlungen Chemnitz

Den Geheimnissen der Malerei auf den Grund zu gehen ist der Anspruch der Kunstgeschichtswissenschaften. Doch dabei wird noch viel zu selten der tatsächliche Grund - das Trägermaterial und dessen Gestaltung - als Analysegrundlage mit herangezogen. Dass dieser mitunter erstaunliche Geheimnisse bietet, bringen häufig Restaurierungsprojekte hervor. Die Freilegung eines Cupidos in Vermeers "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" ist ein spektakuläres Beispiel hierfür aus jüngster Zeit [1]. Die genauere Betrachtung des Grundes eines Gemäldes erbringt dabei nicht nur Erkenntnisse zur Praxis des Künstlers bzw. der Künstlerin, sondern auch inhaltliche, die die Lesbarkeit eines Kunstwerkes entscheidend erweitern können. Veronica Peselmann plädiert in ihrer Arbeit zur Bedeutung des Bildgrundes dafür, dass restauratorische Erkenntnisse und kunsthistorische Betrachtungen und respektive gemäldetechnologische Analysen und ikonologische Interpretationen miteinander einhergehen und systematisch in Werkanalysen integriert werden sollten. Sie setzt daher in ihrer auf die Kunst des 19. Jahrhunderts fokussierten Dissertation dem üblichen Deutungszugang über Figuren und Gegenstände nun einen über materiale Aspekte erfolgenden Zugang voran. Dies bedeutet jedoch nicht die Ausklammerung alles Semantischen und Erzählerischen, sondern dem will sie sich gerade über den Grund nähern.

Ihr Argument dafür: Der Bereich des Grundes sei eine Schnittstelle zwischen Materialität und Bildwerdung (43). Sie nennt den Grund ein relationales Konzept, das sich weder allein auf die materielle, noch auf ikonografische Bedeutungsebene beziehe (86). In seiner materiellen Beschaffenheit, so ihre These, kann der Grund eine wichtige künstlerische und bedeutungsstiftende Funktion einnehmen. Hat die Forschung die Analyse zu dem Aufbau des Hintergrundes im Hinblick auf dessen Materialität und künstlerischen Prozess bisher noch kaum reflektiert, ist es das Ziel ihrer Arbeit, die Verbindung von materialen Vorgängen und kompositorischen Semantiken zu analysieren und auf ihren Beitrag zur inhaltlichen Deutung zu prüfen. Sie formuliert entsprechend: "Das Anliegen dieser Arbeit ist es, diese verschiedenen Prozesse, die sich am Bildgrund realisieren, in ihrer bedeutungsstiftenden Wechselwirkung zu analysieren" (9). Die Betrachtung des Grundes mit seinen drei in Wechselwirkung zueinander stehenden Bereichen - die semantische Ebene, die materiale und die kompositorische - soll als methodischer Zugang zur Bildanalyse aufgewertet und dessen Bedeutungsgenerierung exemplarisch untersucht werden (10-13). Sie führt ihre Betrachtungen dabei auf die figurenbezogene Kunst des 19. Jahrhunderts aus und wählt hierfür Werke der Künstler Camille Corot und Gustave Courbet mit dem Anspruch aus, dass eine über den Grund erfolgende Analyse den Fokus von stereotypisierenden Interpretationsmustern lösen und in eine neue Richtung lenken wird (13).

Der Aufbau der Arbeit ist in vier Hauptkapitel aufgeteilt. In dem ersten Kapitel referiert die Autorin den Forschungsstand zu verschiedenen Ansätzen. Übergeordnete Schwerpunkte stellen wahrnehmungspsychologische, stilgeschichtliche und materialorientierte bzw. produktionshistorische und restauratorische Aspekte des Grundes dar. Die Reflektion der Ansätze aus verschiedenen Bereichen offenbart die mitunter offenbar immer noch vorherrschende Distanz zwischen den material- und den deutungsorientierten Disziplinen, die die Autorin zusammenbringen will. Insbesondere der Einbezug gemäldetechnologischer Untersuchungen habe den Vorteil, die Argumentation auf Befunde und nicht alleine auf diskursive Ausführungen zu stützen (34) und dadurch auch für die Kunst des 19. Jahrhunderts neue Zugänge zu bereits viel diskutierten Gemälden zu erschließen. Zwar hat sich die kunsthistorische Forschung dem Material als Bedeutungsträger gewidmet, doch waren lange Zeit darstellungsbezogene ikonografische Ansätze vorherrschend. Betrachtungen zu materiellen Praktiken fanden für die Kunst des 19. Jahrhundert meist mit Blick auf die Farbbearbeitung als Erklärung für eine Hinwendung zur Moderne statt. Dieses Spektrum will die Autorin ausloten. Diskurse zum Grund liegen etwa mit dem von Gottfried Boehm und Matteo Burioni herausgegebene Sammelband "Der Grund. Das Feld des Sichtbaren" vor [2]. Die Beiträge widmen sich philosophischen, sprachhistorischen sowie literatur- und kunstwissenschaftlichen Annäherungen zum Grund. An diese Ausgangslage, die der Sammelband mit seiner Variationsbreite geschaffen hat und die durch Gottfried Boehm angestoßene Reflexion, den Grund als elementare Bildstrategie zu werten schließt die auf die Malerei fokussierende Arbeit an (16f).

Bevor diese Aspekte jedoch in den Einzelkapiteln zu Corot und Courbet aufgegriffen werden, wird als zweites Kapitel eine tiefgehende Aufarbeitung der wesentlichen Begriffe und Konzepte zu Grund, Malgrund, Grundierung, Hinter- und Vordergrund sowie deren terminologische Äquivalente in der französischen und englischen Sprache anhand von Lexika und Enzyklopädien der 19. Jahrhunderts vorangestellt. Dabei wird herausgearbeitet, dass tendenziell über die Zeit hinweg bei Betrachtungen zum Grund eine Gewichtung weg vom materiellen Aspekt und hin zu seinem Beitrag zur Komposition erfolgte. Wichtig für ihre spätere Argumentation sind auch die zeithistorischen Ausführungen, die den Beitrag des Grundes zum gestalterisch-kompositorischen Gelingen eines Werkes hervorheben. Im Laufe der Arbeit zeigt Veronica Peselmann auf, wie die genannten Künstler mit den damals tradierten Formen der Gestaltung des Grundes brechen und damit Maltraditionen neu verhandeln.

Die beiden Kapitel zu Corot und Courbet widmen sich anhand ausgewählter Bilder dem Grund und dessen Rolle bei dem Bruch mit akademischen Traditionen. Bei Corot erkennt die Autorin unter anderem durch das Hinzufügen von notizenhaften und nichtillusionistischen Schriftzügen auf dem Grund eine Brechung mit Bildtraditionen. Sie zeigt etwa auf, dass durch die Schrift nicht nur Vorder- und Hintergrund miteinander verbunden werden, sondern auch die in diesen Bereichen präsentierten Gattungen Landschaft und Figur, woraus sie eine Gleichwertigkeit abliest (107). Anhand der Atelierbilder von Corot und Courbet wird der Blick weiter auf den Prozess des Malens gelenkt. Gerade das Atelierbild Courbets wurde in der bisherigen Forschung hauptsächlich über die Figuren gedeutet und soziale und politische Interpretationen angestellt. Die Autorin sieht das Bild nicht nur als Bühne für gesellschaftspolitische Debatten, sondern auch als Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen der Malerei (146). In der Gestaltung der Gründe erkennt Veronica Peselmann das Unterlaufen der damaligen akademischen Konventionen. Es wird etwa trotz der Staffelung der Gründe kein Tiefenraum suggeriert. Auch nimmt der recht undefinierte Hintergrund mit seinen Fragmenten einer Landschaftsmalerei eine wesentliche Rolle ein, denn ihm fällt ein Großteil der Fläche zu, wodurch er im Verhältnis zu den Figuren gleichwertig ist (150). Auch dass Courbet den Vordergrund als Ort des Geschehens vernachlässige und dieses im Mittelgrund ansiedele führt sie als Beispiel an. Weiterhin identifiziert sie im Gemälde die Themen Aktmalerei, Stillleben, Porträt und Landschaft, die er einer Assemblage gleich vereint, was sie als Courbets Absicht, die Gattungsgrenzen aufzulösen deutet. Wovon auch die unterschiedlichen, zusammengenähten Leinwandstücke zeugen, die in ihrem Format jeweils bestimmten Genres vorbehalten waren (159ff). "So kann das Atelier tatsächlich über Ateliers der Zeit und die aktuellen Fragen Auskunft geben, jedoch nicht durch einen Zugang über die allegorische Deutung der Figuren, sondern über den malerisch gestalteten und bearbeiteten Grund" fasst sie zusammen. (170)

Veronica Peselmann gelingt es, bisher vereinzelt angesprochene Bereiche der Materialität und Gestaltung des Grundes systematisch in die Betrachtung miteinzubinden und um zeithistorische Aspekte angereichert als Ausgangspunkt und nicht nur als Randnotiz zu integrieren. Dabei werden bisherige, gesellschaftspolitische Deutungen nicht aufgehoben. Diese Themen stehen nicht in erster Reihe, vielmehr solche, die malerische Traditionen betrachten. Eine Abkoppelung wird jedoch nicht gefordert, vielmehr eine sinnvolle Erweiterung. Die Stärke liegt darin, eine Bündelung verschiedener Betrachtungen zu erreichen und dadurch einen Mehrwert an Erkenntnis zu gewinnen. Der Verdienst ihrer Arbeit, die in den umfangreichen ersten beiden Kapiteln den Kontext mitunter weit öffnet, liegt in der Erweiterung des Methodenkoffers. Diese ist sinnvoll und wichtig; auch im Hinblick auf das Verbinden von Disziplinen, sowohl im universitären als auch musealen Bereich. Ob sich aus der Betrachtung des Grundes für jedes Werk eine weiterführende Erkenntnis erzielen lässt, ist im Einzelfall kontextabhängig zu prüfen, wie bei jeder angewandten Methode. Ein Werk vor einer methodischen bzw. inhaltlichen Fokussierung zunächst möglichst ganzheitlich zu betrachten ist zweifelsohne wichtig. Und dass der Grund als oftmals vernachlässigtes Feld auf verschiedenen Ebenen Anknüpfungspunkte bietet, hat Veronica Peselmann bewiesen.


Anmerkungen:

[1] Gemäldegalerie Alte Meister Dresden "Johannes Vermeer. Vom Innehalten", 10.09.2021-02.01.2022.

[2] Gottfried Boehm / Matteo Burioni (Hgg.): "Der Grund. Das Feld des Sichtbaren", München 2012.


Jennifer Chrost

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Rezension von:

Jennifer Chrost
Kunstsammlungen Chemnitz

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle