Rezension

Ulrich Rehm: Klassische Mythologie im Mittelalter. Antikenrezeption in der bildenden Kunst, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 488 S., ISBN 978-3-412-51587-4, 49.00 EUR
Buchcover von Klassische Mythologie im Mittelalter
rezensiert von Bruno Reudenbach, Universität Hamburg

Dass die mittelalterliche Rezeption antiker Objekte, Formen oder Themen ein von der Forschung vernachlässigtes Thema ist, wird man schwerlich behaupten können. Ulrich Rehm hat auf diesem gut besetzten Feld dennoch eine beträchtliche Lücke ausfindig gemacht, die von seiner umfangreichen Studie eindrucksvoll geschlossen wird. Sein Buch fußt auf einem Forschungsprojekt zur mittelalterlichen Mythenrezeption, aus dem zuvor bereits ein Tagungsband hervorgegangen ist. [1]

Gegenstand der Untersuchung sind nicht so sehr form- oder objektgeschichtliche Aspekte von Antikenrezeption, sondern die klassische Mythologie und deren Figuren, insbesondere die Götter, die sich auch in der christlich dominierten Bildwelt des Mittelalters lebendiger Existenz erfreuten. Wenn der Untertitel dennoch allgemein von "Antikenrezeption" spricht, so hat auch das seine Berechtigung, freilich in spezieller Hinsicht. Ausführlich widmet sich Rehm auch der Frage, wie kunstgeschichtliche Forschung in der Vergangenheit mit der Antike im Mittelalter methodisch verfahren ist. Damit rückt allgemeiner der "Epochendiskurs moderner Kunsthistoriographie" (23, 485) in den kritischen Blick, ein Aspekt, der nicht a priori mit Mythenrezeption zusammenhängt, deren Forschungsgeschichte aber zweifellos einen für Diskurskritik aufschlussreichen Fall darstellt.

Die Gliederung der Untersuchung in zwei Teile spiegelt diesen zweifachen Zugriff. Im ersten Teil "Zugänge" werden die Forschungsgeschichte und damit auch die Kritik älterer historiografischer Modelle dargelegt. Außerdem geht es hier in knappen Skizzen um mittelalterliche Konzepte der Befassung mit antiker Mythologie und Kultur, wie sie beispielsweise durch den Idolatrie-Vorwurf, durch Spolienverwendung oder Mythenallegorese artikuliert wurden. Der zweite und erheblich umfangreichere Teil, "Artefakte und visuelle Konzepte" betitelt, verfolgt das Thema mit einer Reihe von Fallstudien zu ausgewählten Objekten.

Das Anliegen seines Buches bestimmt Rehm mit Fragen danach, "warum überhaupt Antikenrezeption stattfand" und "worin die spezifische im Mittelalter getroffene Aussageabsicht besteht" (11). Dass diese Fragen bisher "ausgeblendet" waren, legt ein pointierter Überblick über ältere Forschungsbeiträge offen, mit Erwin Panofsky und Jean Seznec als den wichtigsten Protagonisten. Angeregt auch von neueren Forschungen zu Interkulturalität und Transformationsprozessen plädiert Rehm dafür, differenziert die Interessen und Motivationen zu identifizieren, die jeweils für eine Befassung mit der Antike maßgeblich waren und die entsprechend ganz unterschiedliche Formen von Antikenrezeption auslösen konnten.

Ältere Deutungsmuster, die mittelalterliche Phänomene an einem überzeitlichen Ideal von Antike maßen und diesem gegenüber als defizitär brandmarkten, sind, sofern sie denn noch eine Rolle spielen, mit diesem Zugriff endgültig obsolet. Das gilt besonders für das von Panofsky dem Mittelalter zugeschriebene Disjunktionsprinzip, für das die Denkfigur des Auseinandertretens von Form und Inhalt Programm ist. Mit Verve tritt Rehm gegen die von Panofsky verschiedentlich modifizierte Disjunktions-These und deren Artverwandte an und klärt nebenbei auch noch in wünschenswerter Deutlichkeit die fragwürdigen Implikationen des Geredes von "Einflüssen", "Wirkungen" oder "Nachleben".

Offen bleiben kann dabei, ob Panofskys Disjunktionsprinzip heute tatsächlich noch, wie hier unterstellt, in dem Maße des Widerspruchs bedarf, sind die Schwächen doch seit langem formuliert, nach Ernst Gombrichs noch verhaltener Kritik beispielsweise durch Salvatore Settis oder Konrad Hoffmann. [2] Interessant wäre, in der grundsätzlichen Kritik die Gattungen, Themen und Einzelfälle nicht zu vergessen, in denen das Modell zutreffende Erklärungen, nicht zuletzt in Nachbardisziplinen, geliefert hat und liefern kann, auch ohne dass seine ideologische Grundierung ins Spiel kommen muss. Dennoch, die Wahl von Panofskys These als Referenzpunkt der Argumentation erweist sich als produktiv, ist doch die im zweiten Teil entfaltete Diskussion von Objekten vielfach als Alternative oder im Widerspruch zu Panofsky geschärft und eine, gelegentlich explizit gemachte, Probe auf die Tragfähigkeit seines Konzepts.

Der zweite Teil unterliegt einer fein ziselierten und durchdachten Argumentationsregie, die sich auf Thomas S. Kuhns Paradigmen-Konzept beruft. Anhand von über dreißig Objekten oder Werkkomplexen werden paradigmatisch Formen der Mythenrezeption herausgearbeitet, mal in pointierter Kürze, mal breiter angelegt, stets mit gründlich aufbereiteten Fakten zu Forschungsgeschichte, historischem Kontext und mythographischer Überlieferung. Unter den ausgewählten Werken sind viele gute Bekannte, gelegentlich auch eher Unbeachtetes, wie die Bodenplatte aus St. Severin in Köln mit Theseus und Minotaurus.

Zu allem aber bietet Rehm anregende Interpretationen, die durchweg prononcierte Ansagen nicht scheuen. Mehrere Fallstudien dienen ihm jeweils zur Identifizierung einer spezifischen Form von Mythenrezeption, die vor jedem Kapiteln zusammenfassend charakterisiert ist. Angefangen beim Proserpina-Sarkophag und endend mit Peter Vischers Sebaldusgrabmal bildet die Reihe der Objekte einen informativen Überblick, geradezu ein Handbuch zu nahezu siebenhundert Jahren Mythenrezeption. Deren Chronologie gliedert sich in vier Phasen, die allerdings mit Beispielen sehr unterschiedlich stark bestückt sind: ab ca. 800, ab ca. 1100, ab ca. 1300 und ab ca. 1450. Eine genauere Bestimmung dieser durch Überschrift und Kopfzeilen markierten Zeitabschnitte ergibt sich weitgehend implizit aus der Diskussion der ihnen zugeordneten Rezeptionsformen. Wünschenswert wäre jedoch eine explizite Begründung, die eine Einsicht in die Plausibilität dieser Einteilung erleichtert hätte, schon deshalb, weil den Zäsuren das anspruchsvolle und hoch gegriffene Prädikat eines "Paradigmenwechsels" im Sinne Kuhns zugesprochen wird.

Das gilt besonders für die letzte Phase, deren Darstellung allein ein Drittel des zweiten Teils einnimmt. Ihr sind neben anderen Mantegna, Botticelli, Dürer und Raffael zugeordnet, Namen, die in einem Buch zum Mittelalter nicht unbedingt zu erwarten sind. Rehm ist das bewusst, und in den Fallstudien kommen durchaus Argumente für diese Einbeziehung zur Sprache. Bei der Stanza della Segnatura geht es ihm zum Beispiel um die mittelalterlich gestimmte "Harmonisierung der 'paganen' Antike und der christlichen Kultur" (369). Gerade hier hätte eine über solche vereinzelt angeführten Aspekte hinausgehende systematische und konsistente Begründung für die Konstruktion dieser Rezeptionsphase nicht geschadet. Die Einbeziehung des 15. Jahrhunderts steht aber zugleich auch für eine Qualität von Rehms Buch, dass es nämlich mit seinen Einsichten und Deutungsangeboten eine Einladung zu ständigem Überdenken eingeschliffener Sichtweisen und zur Revision überkommener Deutungsmuster ist.


Anmerkungen:

[1] Ulrich Rehm (Hg.): Mittelalterliche Mythenrezeption. Paradigmen und Paradigmenwechsel (= Sensus; Bd. 10), Wien / Köln / Weimar 2018.

[2] Salvatore Settis: Von "auctoritas" zu "vetustas". Die antike Kunst in mittelalterlicher Sicht, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 51 (1988), 157-179; Konrad Hoffmann: Panofskys "Renaissance", in: Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, hg. von Bruno Reudenbach, Berlin 1994, 141-144.


Bruno Reudenbach

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Rezension von:

Bruno Reudenbach
Universität Hamburg

Redaktionelle Betreuung:

Rebecca Müller