Rezension

Eduardo Jorge de Oliveira: Beschweigen, Bezeichnen. Mira Schendel und die Schrift unmittelbaren Erlebens. Aus dem Brasilianischen übersetzt von Melanie Strasser , Berlin: Diaphanes Verlag 2020, 80 S., ISBN 978-3-0358-0280-1, 12.00 EUR
Buchcover von Beschweigen, Bezeichnen
rezensiert von Pauline Bachmann, Universität Zürich

Mit dem Buch Beschweigen, Bezeichnen legt Eduardo Jorge De Oliveira eine kurze aber intensive Abhandlung über das Werk der schweizerisch-brasilianischen Künstlerin Mira Schendel (1919-1988) vor. Der buchlange Essay unterzieht ihr Schaffen von zwei verschiedenen Perspektiven aus einem geschärften Blick für dasjenige, das sich zwischen Formen und Bedeutungen versteckt. Hierzu verwendet der Autor die phonetisch verwandten Begriffe "Sigilo" (Geheimnis, Siegel) und "Signo" (Zeichen) als Referenzpunkte zwischen denen sich Schendels Werk entfaltet und verstanden werden kann. Der Übersetzung von Melanie Strasser ist es geschuldet, dass das Begriffspaar besonders pointiert ins Deutsche übertragen wurde: Neben den Substantiven treten sie auch als aktive Verben in Erscheinung, wie der Titel des Buches bereits verrät. Damit wird die engagierte Rolle der Künstlerin, die der Autor ihr zuschreibt, in der Konstruktion des leeren Bildraumes noch stärker akzentuiert. Der Herstellung von Bedeutung wird eine aktive Konstruktion von Nicht-Bedeutung gegenübergestellt, die als maßgebliches Merkmal der Werke Schendels in den Vordergrund rücken.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten nähert sich de Oliveira Mira Schendels Werk und im Besonderen ihrer Serie der Monotypien, aus einer philosophisch-ideengeschichtlichen Perspektive, in der er sich an Schendels eigener Bibliothek orientiert. Im zweiten Teil wirft der Autor einen Blick auf Schendels Biographie, nicht jedoch, um deren Eckdaten auf ihr Werk zu beziehen, wie es in klassisch kunsthistorischen Untersuchungen teilweise noch immer praktiziert wird, sondern um bestimmte Muster herauszuarbeiten, die das Leben und eben auch das Arbeiten der Künstlerin bestimmten und auf diese Weise die Bedeutungsgenerierung in ihrem Werk beeinflussten.

In philosophischen Werken, die sich in Mira Schendels Bibliothek finden lassen, liest de Oliveira mögliche konzeptuelle Spuren, die sich im Werk der Künstlerin wiederfinden. Die Referenz auf die Bibliothek der Künstlerin ist von gesonderter Relevanz, denn, wie der Autor darlegt, übersetzte sie "an keiner Stelle philosophische Begriffe in künstlerische" (25). Daher folgt die Interpretation von Schendels Werk auch einer Spurensuche zwischen dem eindeutig Zuordnenbaren und dem Abwesenden, deren Polarität sich bildlich in ihren Arbeiten manifestiert. Es ist ein interessanter und gelungener Ansatz, eben jene Spurensuche auch auf philosophische Textspuren auszuweiten, und sie ebenfalls zwischen diesen beiden Polen anzusiedeln.

Als besonders fruchtbar erweist sich die Zusammenführung von Herrmann Schmitz phänomenologischem Denken und Mira Schendels künstlerischem Handeln. Wie die Künstlerin hat Schmitz sein Werk am Rande der generellen Strömungen seiner Zeit entwickelt und ist ein ebensolcher Phänomenologe wie sie es ist und gleichzeitig nicht ist (30). Auch er begibt sich auf eine Spurensuche und fahndet nach Phänomenen in komplexen "Problemzusammenhängen" (30). Diese Art des Suchens überträgt de Oliveira auf Schendels künstlerisches Handeln und erkennt in ihm Leere und Bedeutung zugleich, die sich in einem ewigen Streit um ihren Platz in der Welt befinden.

De Oliveira arbeitet zudem Schendels einzigartige Stellung in der Kunstgeschichte in Brasilien heraus, denn sie gehörte keinem der Kollektive an, die sich ihrerzeit in den Metropolen zusammengefunden hatten. Obgleich sie ihr Werk mit ähnlichen Einflüssen entwickelte - etwa den Phänomenologen und allen voran Maurice Merleau-Ponty - tat sie es doch auf ganz eigene Weise. So stellt de Oliveira sie zwar in die Nähe der Konkreten und Neokonkreten Künstler*innen, hebt jedoch ihren eigensinnigen Umgang mit Schrift hervor, der sie zuweilen näher an die gestische Kunst des brasilianischen Informell rückt. Diese Nähe manifestiert sich nicht zuletzt durch Schendels Beschäftigung mit fernöstlichen Texten, wie dem I Ching, der Philosophie des Taoismus und des Zen (24), denn auch die Malerei des Informell war in Brasilien stark geprägt von Einwanderern aus ostasiatischen Ländern, allen voran Japan. Im Mittelpunkt von Mira Schendels Schaffen stehen dennoch die Schrift und ihre Zusammensetzung sowie ihre Beziehung zur Leere. "Der Strich", so räsoniert der Autor, sei "ein Eindringling auf dem Papier", "ein Fremder, so wie die Wörter, die sie mit der Hand, zugleich kindlich und polyglott, in diverse Monotypien einschrieb" (32).

Im zweiten Teil des Buches geht de Oliveira den biographischen Spuren in Mira Schendels Werk nach, in denen er die fortwährenden Ortswechsel und ihre Beschäftigung mit Migration und Entwurzelung als eingeschriebene Bewegung in ihren Arbeiten sucht. Die biographische Spurensuche führt den Autor schließlich zur Erkenntnis, dass dem Werk Schendels eine gewisse Körperlichkeit inhärent ist: Die Leere lässt sich nur füllen, indem der Körper und der Geist Schendels Bewegungen vollführen und dabei die Lücke zwischen dem "symbolhaften Aspekt des Buchstabens und der Materie des Papiers" als solche anerkennen und bewohnen (67). In diesem Teil des Buches geht es zudem stärker um materielle Aspekte des Werkes, vor allem legt de Oliveira den Fokus auf Materialverschiebungen zwischen bestimmten Werkserien der Künstlerin und interpretiert diese vor dem Hintergrund der Migration sprachlicher Zeichen in den Raum. Mithilfe theoretischer Überlegungen der Semiotiker Charles Sanders Peirce und Max Bense, untersucht der Autor verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten der von der Künstlerin verwendeten Zeichen, etwa des Pfeils als "abstrakter Hinweis" der Bewegung zwischen zwei Orten (63).

Ein langer Abschnitt ist der Auseinandersetzung Walter Benjamins und Agambens mit Sprache gewidmet und dem unterschiedlichen Verständnis, das beide Philosophen von ihr haben - Benjamin geht von Sprache als ein Medium aus, während Agamben sie als eine Ansammlung von "Signaturen" bezeichnet. De Oliveira schreibt gerade der Konzeption von Sprache als Signatur eine besondere Bedeutung für Schendels Werke zu, ist die etymologische Ähnlichkeit zum "Signo" (Zeichen) doch kaum zu übersehen. Die Signatur versteht de Oliveira als eine Einschreibung in die Welt, das bedeutet, "der gestische Charakter der Worte und Striche in Mira Schendels Monotypien" ist eng verflochten mit dem Zwischenraum zwischen Symbol und Leben bzw. Erlebtem (72). In diesem Raum zwischen Bezeichnetem und Erlebtem, zwischen Bedeutungszuschreibung und Erfahrung ereignet sich Mira Schendels Werk.

Leser*innen, die noch nicht sonderlich vertraut sind mit dem Werk der Künstlerin, mag es mitunter schwerfallen, den philosophischen Verzweigungen zu folgen, die der Autor ausgehend von Schendels Werk eröffnet, zumal das Buch nur über fünf Abbildungen verfügt. Zwar hat die Künstlerin in den letzten Jahren durch vermehrte Ausstellungen auch in Europa (Tate, London; Centro de Arte Reina Sofia, Madrid) an Bekanntheit gewonnen, doch dürfte ihr Werk hierzulande noch immer häufig auf Unkenntnis stoßen. De Oliveiras kurzes Buch ist sicherlich ein wichtiger Schritt, um die Künstlerin auch in unseren Breitengraden bekannter zu machen. Daher ist es bedauerlich, dass der Autor die konkreten Werke und ihre plastische Materialität selten ins Zentrum rückt und stattdessen den philosophischen Betrachtungen, die aus den Bildern heraus und in sie hineinzeigen einen verhältnismäßig großen Raum überlässt.


Pauline Bachmann

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Pauline Bachmann: Rezension von: Eduardo Jorge de Oliveira: Beschweigen, Bezeichnen. Mira Schendel und die Schrift unmittelbaren Erlebens. Aus dem Brasilianischen übersetzt von Melanie Strasser , Berlin: Diaphanes Verlag 2020
in: KUNSTFORM 21 (2020), Nr. 12,

Rezension von:

Pauline Bachmann
Universität Zürich

Redaktionelle Betreuung:

Kerstin Schankweiler