Rezension

Bénédicte Gady / Juliette Trey: La France vue du Grand Siècle. Dessins d'Israël Silvestre (1621-1691), Paris: Lienart 2018, 207 S., ISBN 978-2-35906-231-1, 29.00 EUR
Buchcover von La France vue du Grand Siècle
rezensiert von Kristina Deutsch, Institut für Kunstgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster

Die Untersuchung druckgrafischer Architekturdarstellungen des Grand Siècle ist immer noch eine rein französische Angelegenheit. Das suggeriert jedenfalls der Katalog zur Ausstellung der Zeichnungen Israël Silvestres (geb. in Nancy 1621, gest. in Paris 1691), einem der bedeutendsten Vedutisten des 17. Jahrhunderts. Die Autorinnen und Autoren verfügen über hervorragende architektur- und stadthistorische sowie archivalische Kenntnisse, doch ignorieren sie maßgebliche Beiträge der aktuellen Forschung. Insbesondere die deutschsprachige Kunstwissenschaft interessiert sich heute weniger für den baugeschichtlichen Quellenwert der Radierungen, sondern rückt die vielseitigen Funktionen und die zugrunde liegenden Parameter des Mediums Architekturstich in den Vordergrund. [1] Diese Ansätze finden keine Berücksichtigung im vorliegenden Katalog.

Der Wert dieser Publikation liegt im Wesentlichen darin, dass es sich, mit Ausnahme einer unveröffentlichten Abschlussarbeit der École du Louvre von 1968, um die bislang einzige umfassendere Aufarbeitung der Zeichnungen Silvestres handelt. [2] Auch dem druckgrafischen Werk galten bislang nur vereinzelte Beiträge zu ausgewählten Radierungen, abgesehen vom 1857 erschienenen Werkverzeichnis von Louis-Etienne Faucheux. [3]

Von den circa 150 bekannten Zeichnungen des Künstlers verwahrt der Louvre mit 113 Blättern den weltweit größten Bestand. 76 davon waren bislang in ein Album des 18. Jahrhunderts eingebunden. Sie wurden nun herausgelöst und restauriert, was Anlass für die Pariser Ausstellung gab. Viele Zeichnungen wurden dort erstmals gezeigt.

Das kaum erforschte Material ist hochinteressant und bedürfte dringend einer systematischen Untersuchung, von der Rückschlüsse auf die in weiten Teilen noch immer unbekannten Entstehungsumstände druckgrafischer Architekturdarstellungen der Frühen Neuzeit zu erwarten wären. Nur zum Teil stellt die Publikation sich dieser Herausforderung und formuliert Fragen, die in der Behandlung der Zeichnungen Silvestres zwangsläufig aufkommen. So jene nach dem Status der zuweilen skizzenhaften, zuweilen detailliert ausgearbeiteten, manchmal sogar kolorierten Blätter, bei denen es sich um Reiseskizzen, Vorlagen für den Druck, möglicherweise auch für Malerei und Tapisserien (11, 25), sowie mitunter um Präsentationszeichnungen für einen Kunden (11, 23) oder gar um exklusive Sammlerstücke gehandelt haben mag.

Die erhaltenen Blätter sind als zufällig erhaltene Fragmente eines mehrere Stadien umfassenden Produktionsprozesses zu verstehen (vgl. Kat.-Nr. 15, 22, 39-42, 66, 78, 114-119). Dabei zeigt die minutiöse Analyse einzelner Exponate, wie Silvestre die Architekturdarstellung den Prinzipen seiner künstlerischen Komposition unterwirft (vgl. z.B. Kat.-Nr. 23, 51, 80-81, 138-139). Dies taten auch andere "Architektur-Porträtisten" des 17. Jahrhunderts, sodass es irreführend ist, bei Abweichungen von historischen Bauzuständen von "Fehlern" zu sprechen. [4]

Der wichtigste unter diesen Interpreten war der Architekt und Grafikkünstler Jean Marot, der als der eigentliche Architekturspezialist unter Silvestres Zeitgenossen im Katalog nur en passant vorkommt. [5] Dabei wäre es erhellend gewesen, Silvestres und Marots Arbeitsweisen gegeneinander zu stellen. Anders als Marot, für den der architektonische Entwurf im Vordergrund stand und der mit (keineswegs immer endgültigen) Projektzeichnungen arbeitete, scheint Silvestre zumeist den Baubestand vor Ort "sur le vif" (23) skizziert zu haben. Aufwendige Bauvermessungen machten beide nicht, und verlässliche Abbilder des vollendeten Baus zu einem bestimmten Zeitpunkt sind nicht zu erwarten. Vielmehr zielten Silvestre und Marot auf die Inszenierung der Architektur im Sinne einer bestimmten, von Werk zu Werk variierenden Funktion, die häufig im Bereich der Panegyrik und der Herrschaftsrepräsentation lag.

Wie Gabriel Perelle, Stefano della Bella und andere arbeitete auch Marot eine Zeit lang mit Silvestre zusammen. Diese Arbeitsteilung hat nur gelegentlich eine Spur in den Legenden der Drucke hinterlassen, die häufig nur den Verleger nennen. Für Zuschreibungsfragen bleiben die Aufzeichnungen des Pariser Grafikhändlers Pierre-Jean Mariette die wichtigste Quelle. [6] Dabei stellt sich letztlich die Frage wieviel Silvestre eigentlich in dessen Werken steckt. Welchen Anteil hat er an der Radierung, wieviel delegierte er an Marot, die Familie Perelle und andere? Schuf er grundsätzlich die vorbereitenden Zeichnungen oder waren auch dafür manchmal andere zuständig? Welchen Grad der Vollendung erreichte eine Vorlage für den Druck, wieviel Freiheit blieb bei der eigentlichen Übertragung durch Silvestre oder andere Künstler? [7] Das sind entscheidende Überlegungen, die uns die Charakteristiken des Architekturstichs näherbringen. Der Katalog widmet sich stattdessen der ebenfalls wichtigen technischen Seite des Produktionsprozesses und vermutet die Verwendung einer camera obscura bei der Objektaufnahme vor Ort (24).

Silvestres Freundschaft mit dem ersten königlichen Maler Charles Le Brun dürfte seinem Erfolg bei Hof zuträglich gewesen sein (14). Um 1660 wendet er sich ab vom kleinen Format für Sammelalben und schafft monumentale Kompositionen, die in der Serie zu Vaux-le-Vicomte erstmals fassbar sind (16; Kat.-Nr. 16-21). Doch dieser Formatwechsel kennzeichnet den französischen Architekturstich allgemein, wobei die Standards des Cabinet du Roi eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Bei diesem von Minister Jean-Baptiste Colbert initiierten und kontrollierten Unternehmen ging es um die druckgrafische Verbreitung der Errungenschaften des Sonnenkönigs. [8]

Hervorzuheben ist die Präsentation unbekannter Skizzen wie der Aufnahme der Festdekoration der Krönung Ludwigs XIV. 1654 in Reims oder eines Kostümentwurfs für Madame de La Valllière, der ein völlig neues Tätigkeitsfeld Silvestres offenbart (Kat.-Nr. 27 u. 34). Drei Blätter evozieren Silvestres Dokumentation höfischer Maskenbälle (Kat.-Nr. 32-34). Derartige Werke sind wertvolle Momentaufnahmen der französischen Hofkultur des 17. Jahrhunderts, in der Silvestre zu bestehen hatte. Insofern jedenfalls wurde das Versprechen, "Frankreich aus der Sicht des Grand Siècle" zu präsentieren, eingelöst. Die Erweiterung der Perspektive um internationale Forschungsansätze, die bei einer Publikation des Louvre zu erwarten wäre, müssen zukünftige Studien nachholen.


Anmerkungen:

[1] Michaela Völkel: Das Bild vom Schloß. Darstellung und Selbstdarstellung deutscher Höfe in Architekturstichserien 1600-1800, München / Berlin 2001; Eva-Bettina Krems: La Venaria Reale: Palazzo di Piacere, e di Caccia (1672/79). Bernini und Castellamonte im Gespräch über ein Jagdschloß, in: Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit, hg. von Sebastian Schütze, Berlin 2005, 213-250; Stefan Schweizer / Christof Baier (Hgg.): Illusion und Imagination. André Le Nôtres Gärten im Spiegel barocker Druckgraphik, Ausstellungskatalog, Düsseldorf, Museum für Europäische Gartenkunst der Stiftung Schloss und Park Benrath 15.9.-17.11.2013, Düsseldorf 2013; Kristina Deutsch: Jean Marot. Un graveur d'architecture à l'époque de Louis XIV, Berlin / Boston 2015; Julian Jachmann: Von Serlio bis Ledoux: 'Differenz und Wiederholung' in seriellen Publikationen zur französischen Wohn- und Residenzarchitektur, Köln 2016; Monika Melters / Christoph Wagner (Hgg.): Die Quadratur des Raumes. Bildmedien der Architektur in Neuzeit und Moderne (= Zoom. Perspektiven der Moderne; Bd. 3), Berlin 2017. Zur verwandten Thematik der Raumausstattungen im Ornamentstich siehe auch Thomas Wilke: Innendekoration. Graphische Vorlagen und theoretische Vorgaben für die wandfeste Dekoration von Appartements im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich (= Schriftenreihe des Kunsthistorischen Instituts der Universität Stuttgart; Bd. 3), München 2016.

[2] Brigitte Belin: Dessins d'Israël Silvestre au Cabinet des Dessins du Louvre, Qualifikationsarbeit (Mémoire du 3ème cycle) an der École du Louvre, Paris, betreut von Roseline Bacou, 1968.

[3] Louis-Etienne Faucheux: Catalogue raisonné de toutes les estampes qui forment l'œuvre d'Israël Silvestre, Paris, 2. Aufl. 1969 [1857].

[4] Olga Medvedkova spricht von "'portraitistes' de l'actualité architecturale française du Grand Siècle" (178), Alexandre Gady von "'portraits' de monument du Grand Siècle" (84). Zu den "erreurs" vgl. Gady, Kat.-Nr. 73-75, 174 u. 176.

[5] Vgl. auch im Folgenden zu Marot Deutsch 2015 (wie Anm. 1); zur Zusammenarbeit mit Silvestre ebd. 79-87, 407-419.

[6] Philippe de Chennevières / Anatole de Montaiglon (éds.): Abécédario de P.-J. Mariette et autres notes inédites de cet amateur sur l'art et les artistes, 6 Bde., Paris 1853-1852; Pierre-Jean Mariette: Catalogues de la collection d'estampes de Jean V, roi de Portugal, éd. p. Marie-Thérèse Mandroux-França / Maxime Préaud, 3 Bde., Paris / Lissabon 1996-2003.

[7] Vgl. zu dieser Problematik in anderem Kontext Anne Bloemacher: Raffael und Raimondi. Produktion und Intention der frühen Druckgraphik nach Raffael, Berlin 2016; Rezension von Ralf Borrmann in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 6 [15.06.2018], URL: http://www.sehepunkte.de/2018/06/30790.html.

[8] Vgl. z.B. Marianne Grivel: Ouvrages, volumes ou recueils? La constitution du recueil du Cabinet du Roi, in: À l'origine du livre d'art. Les recueils d'estampes comme entreprise éditoriale en Europe (XVIe-XVIIIe siècles), éd. p. Cordélia Hattori / Estelle Leutrat / Véronique Meyer, Mailand 2010, 65-79.


Kristina Deutsch

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Kristina Deutsch
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Sigrid Ruby