Rezension

Todd Cronan: Against Affective Formalism. Matisse, Bergson, Modernism, Minneapolis / London: University of Minnesota Press 2013, ISBN 978-0-8166-7603-3, 22.50 GBP
Buchcover von Against Affective Formalism
rezensiert von Hanni Geiger, München

Affekt oder Repräsentation? Form oder Inhalt? Seit Beginn der Kunstgeschichtsschreibung stellt sich die Frage nach der Wirkmacht der Kunst auf den Betrachter. Spätestens mit Alois Riegls Abhandlung Die spätrömische Kunst-Industrie (1901) und der Begründung einer formalen Ästhetik weiß man um die Bedeutung des äußerlich Wahrnehmbaren gegenüber der für die Interpretation des Werks nicht ausreichend aussagekräftigen Idee, des Kontexts oder Inhalts. Allein die materiellen Eigenschaften eines Kunstwerks (Form, Farbe, Rhythmus usw.) könnten - ohne kognitives Zutun des Künstlers - eine Wirkung auf den Betrachter und damit auch Bedeutung generieren. Nach einer formalästhetisch skeptischen Phase während des Nationalsozialismus stößt die Affekt-Theorie durch das Aufkommen der Bildwissenschaften in den 1990er-Jahren, die sich in Analogie zum iconic turn der materiellen Dimension von Kultur widmeten, erneut auf das Interesse der Forschung. Mit der Abwendung von Fragen des Diskurses, des Textuellen und der Repräsentation ging in der Theorie eine der Körperlichkeit entsprechende Entdeckung der Gefühle oder Affekte einher. Todd Cronans 2013 publizierte Schrift Against Affective Formalism. Matisse, Bergson, Modernism reiht sich in eine nicht neue, aber seit der Jahrtausendwende verstärkt um die gegensätzlichen Konzepte der Wahrnehmung und Interpretation von Kunstwerken geführte wissenschaftliche Debatte ein. Den bekannteren pro-affektiven Ansätzen in Europa und den USA, wie etwa Mieke Bals Konzept des "Affekts als kulturelle Kraft" [1] und jenem der New Yorker Essayistin Siri Hustvedt, die sich der jüngeren neurowissenschaftlichen Forschung bedient, um Kunstwerken eine emotionale Qualität bei gleichzeitiger Absprache wahrnehmbarer Inhalte zu attestieren [2], stehen auch affektkritische Ansätze, wie die Befürchtung einer "Re-Ontologisierung" der Medienwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer, gegenüber. [3]

Auch Cronan spricht sich, so legt der bezeichnende Titel nahe, gegen das Affekt-Konzept aus. Im Speziellen geht es ihm um die Korrektur der zweifelhaften Rollen von Vertretern der Sensationsästhetik, die zwei der wichtigsten Figuren der Moderne im Zuge des affective turn zugewiesen wurden: dem Maler Henri Matisse (1869-1954) und dem Philosophen Henri Bergson (1859-1941), deren Schaffen seit den 1910er-Jahren stets in Verbindung zueinander gelesen wurde. [4] In einem historischen Rückblick in Kapitel 1 verfolgt Cronan das Aufkeimen des affektiven Analyseansatzes in Verbindung mit dem zeitgleich erstarkten antirepräsentativen Diskurs bis ins beginnende 19. Jahrhundert zurück, der schließlich mit den französischen Symbolisten seinen Höhepunkt erlebt. Obgleich die Moderne den Ausgangspunkt seiner Argumentation darstellt, wendet sich Cronan in der Absteckung des Begriffs "affective formalism" dem Philosophen Gilles Deleuze zu. Seine Publikationen aus dem Jahr 1988 - zeitgleich erschienen seine Arbeit Bergsonism und die Übersetzung der neuen Ausgabe von Bergsons Matter and Memory von 1896 - kennzeichnen den Auftakt der angelsächsischen postmodernen Theorie rund um die Affekt-Theorie. Auch Matisse' eigene, schriftlich festgehaltene Faszination für Linie und Farbe als Agenten unmittelbarer emotionaler und sensorischer Effekte auf den Betrachter, stellt in Zusammenhang mit den Ansätzen Deleuzes und Bergsons die Basis für eine bis heute anhaltende einfühlende Herangehensweise an seine Werke dar. Besonders in der zweiten Welle des affective turn, die nun im weiteren Schritt nicht mehr den Betrachter, sondern das Werk selbst zur bestimmenden Interpretationsinstanz erklärt, erkennt Cronan die Hauptquelle für seine Kritik. Mit der Reduzierung des Kunstwerks auf seine physiologische Wirkung mit gleichzeitiger Eliminierung der ihm inhärenten Intention, sieht er die notwendige kritisch zu führende Kunstdebatte als grundsätzlich ausgeschlossen.

In Kapitel 2 geht es Cronan um die Aufarbeitung der seinem Verständnis nach falschen Auslegung von Bergsons Auseinandersetzung mit Intention, wodurch auch Matisse' Kunstverständnis zu revidieren sei. Die von Cronan ausgewählten zentralen Schriften des Philosophen lassen seine Beschäftigung mit Hypnose in Beziehung zu künstlerischer Intuition erkennen. Die Mechanik der Hypnose verstand dieser in Analogie zur ästhetischen Situation: in beiden Fällen riefe ein Agent über ein Medium Emotionen hervor, die tief im erfahrenden Subjekt schlummerten. Cronan erkennt hier den Fehler, den die Affekt-Theorien rund um Matisse begehen, wenn sie sich Bergsons Philosophie nur partiell bedienen. Während Bergson bei der Hypnose sowohl dem Hypnotiseur als auch dem Hypnotisierten eine agierende Rolle zusprach, eliminiere der affektive Ansatz gänzlich die Wirkung des Künstlers zugunsten der alleinigen kommunikativen Kraft des Mediums / Kunstwerks.

Das dritte und vierte Kapitel widmet Cronan einer eingehenden Analyse von Matisse' Kunstwerken und zieht dafür zahlreiche hochqualitative Farb- und Schwarz-Weiß-Abbildungen heran. Die als dialektisch und widersprüchlich bekannte Zerrissenheit des Malers zwischen dem Wunsch nach intentionaler Bedeutungsgenerierung und der Idee einer "direkten" Kommunikation verbildlicht Cronan anhand intelligent gewählter und paarweise gegenübergestellter Arbeiten. Die Darstellung verschiedener Schaffensphasen des Künstlers auf der Basis ein und desselben Themas offenbart sehr unterschiedliche formale Herangehensweisen - realistisch und phänomenologisch, distanziert und fast taktil, dem Betrachter nah - und belegt Matisse' stetige Oszillation zwischen Affekt und Intention. Cronans abschließende Feststellung "The effort to bridge difference without subsuming it, to deny neither his difference from the world nor his connection to it [...]" unterstreicht sein letztlich versöhnliches Plädoyer für ein im "Dazwischen" anzulegendes Matisse-Verständnis (167). Mit dem letzten Kapitel zu Paul Valéry (1871-1945), einem Wegbegleiter und Freund Matisse' und Bergsons, schließt Cronan seine Studie mit einer ähnlichen Konstatierung: Die Intention oder das "Wissen" des Autors sollte keineswegs im Widerspruch zur Bedeutung der Gefühle und der Erfahrung des Wahrnehmenden gelesen werden.

Cronan ist mit seiner Schrift ein bemerkenswerter Versuch zu attestieren, die künstlerische Intention von ihrem negativen Image zu befreien. Dabei stellt sich die Arbeit ihrem grundlegenden, bereits im Titel enthaltenen Leitspruch gemäß zunächst als Rückkehr in einen vormodernen, pro-repräsentativen Zustand mit einer überwunden geglaubten Postulierung der Differenzierung zwischen Kunst und Objekten bzw. Kunst und Leben [5] dar. Damit verstünde sie sich als Kritik an der zeitgenössischen Forschung, der es trotz ihres Interesses an einer Verbindung der Affekt-Ästhetik mit einem eher repräsentationsfreundlichen Ansatz, grundlegend um eine kritische Befragung von Zeichenprozessen, Bezeichnungspraktiken und der historischen Gewordenheit von Wahrnehmung geht. Die eingangs erwähnte Essayistin Hustvedt bringt diese gegenwärtige Stimmung treffend auf den Punkt: "Wenn wir uns einem Kunstwerk nähern, haben wir nicht nur Anteil am Ergebnis des intentionalen Spiels einer anderen Person in ihrem fiktiven Raum, wir dürfen auch selbst spielen, sinnieren, träumen, hinterfragen und theoretisieren [...], weil Wahrnehmung aktiv und kreativ ist und weil Kunstwerke uns nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, körperlich, bewusst und unbewusst anziehen, und diese Beziehung, dieser Dialog kann [...] schier endlos sein." [6] Andererseits versteht sich Cronans Untersuchung aber auch als eine überzeugende, ganzheitliche Beschäftigung mit dem affective turn; Matisse und Bergson stehen dabei für viel umfassendere Fragen rund um die kunstwissenschaftlichen Methoden seit der Moderne, insbesondere hinsichtlich des Konzepts der Repräsentation und Rezeption. Against Affective Formalism ist eine herausfordernde und lohnende Schrift, die jedem Wissenschaftler und jeder Wissenschaftlerin, interessiert am Stand der heutigen Kunstgeschichte, zu empfehlen ist.


Anmerkungen:

[1] Siehe etwa Antje Krause-Wahl / Heike Oehlschlägel / Serjoscha Wiemer (Hgg.): Affekte. Analysen ästhetisch medialer Prozesse. Mit einer Einleitung von Mieke Bal, Bielefeld 2006; zudem greifen Sigrid Adorf und Maike Christstadler in der 55. Ausgabe (Februar 2014) ihrer Zeitschrift FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur unter dem Titel New Politics of Looking? - Affekt und Repräsentation die aktuelle Diskussion um Repräsentationskritik in ihrem Verhältnis zur Affekt-Theorie auf.

[2] Siri Hustvedt: Mit dem Körper sehen: Was bedeutet es, ein Kunstwerk zu betrachten? (engl. Originalausgabe: Embodied Visions: What Does it Mean to Look at a Work of Art?, in: Living, Thinking, Looking, New York 2010), in: Leben, Denken, Schauen, übersetzt von Uli Aumüller / Erica Fischer, Reinbek 2014, 439-462.

[3] Angerer diagnostiziert, dass die Konzepte von Sprache, Zeichen und (Geschlechter)Differenz, wie sie insbesondere im Anschluss an Freud, Lacan und Derrida mit der Psychoanalyse als Kulturtheorie erarbeitet wurden, mit der pro-affektiven Wahrnehmung von Kunstwerken gänzlich aus dem Blick geraten. Vgl. Marie-Luise Angerer: Affekt und Repräsentation - Blick und Empfinden, in: FKW (Februar 2014), Nr. 44, https://www.fkw-journal.de/index.php/fkw/article/view/1276/1271, 026-037 [Abgerufen am 28.12.2016].

[4] Zu den bekannteren Untersuchungen der philosophisch-künstlerischen Verbindung von Matisse und Bergson im deutschsprachigen Raum, allerdings jenseits der Debatte um Affekt vs. Intention bei der Kunstbetrachtung, zählt: Matisse begegnet Bergson. Reflexionen zu Kunst und Philosophie von Lorenz Dittmann (2008).

[5] "[...] representation is the ground upon which artworks differ from the world", 21f.

[6] Hustvedt (2010) 2014, 463.


Hanni Geiger

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Hanni Geiger
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Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle