Rezension

Philipp Kaiser / Miwon Kwon: (Hgg.) Ends of the Earth. Land Art to 1974, München: Prestel 2012, 264 S., ISBN 978-3-7913-5194-0, 60.00 USD
Buchcover von Ends of the Earth
rezensiert von Philip Ursprung, Zürich

Wenn man den Mainstream der Kunst des 20. Jahrhunderts überblickt, dann gehört die Land Art, im englischen Sprachraum meistens als Earth Art bezeichnet, zu den Bereichen, die am wenigsten genau vermessen sind. Entsprechend hartnäckig halten sich diverse Mythen in der Kunstgeschichtsschreibung. Die Land Art soll Ausdruck einer für die Zeit um 1970 verbreiteten Abwendung von der Stadt, einer Kritik der künstlerischen Institutionen und einer Kritik des Kunstmarktes sein. Sie soll untrennbar mit einer als unberührbar verstandenen "Natur" zusammenhängen. Und sie soll sich der Ausstellung widersetzten, weil ihre Werke entweder nicht mehr existieren oder schwer zugänglich sind, wie die kanonischen Werke der Land Art, Robert Smithsons Spiral Jetty, Michael Heizers Double Negative, Walter de Marias Lightning Field, Nancy Holts Sun Tunnels und James Turrells Roden Crater.

Philipp Kaiser und Miwon Kwon dekonstruieren mit der Ausstellung Ends of the Earth: Land Art to 1974 diese Mythen, indem sie das Feld der Land Art zeitlich und räumlich ausdehnen. Aus dem Teil des Stroms wird ein Delta, um im Bild der Land Art zu bleiben. Statt auf der gängigen Definition der Land Art als Höhepunkt der amerikanischen Skulptur zu beharren, holen Kaiser und Kwon weit aus. Sie folgen der Hypothese, dass die kanonische Land Art nur der bekannteste Teil einer künstlerischen Praxis sei, welche bereits in den späten 1950er-Jahren einsetzt, an keine künstlerischen Gattungen gebunden ist und Künstler aus den USA, Europa und Japan umfasst. Die Grenzen zu Fluxus und Nouveau Réalisme sind ebenso durchlässig wie diejenigen zur Conceptual Art und der Performance. Die Kuratoren rücken die Land Art vom Rand ins Zentrum der jüngeren Kunstgeschichte, mit dem Argument, dass nirgendwo das Problem der Ausstellbarkeit von Kunst (im Medium der Fotografie und des Films, auf den Seiten der Kunstzeitschrift, in Gestalt von Diagrammen und Modellen) deutlicher artikuliert wird.

Die Ausstellung, die im Sommer 2012 im Museum of Contemporary Art in Los Angeles und im Winter 2012/13 im Haus der Kunst in München zu sehen war - ich konnte die Version in München besuchen - erlaubt nicht nur die Begegnung mit den viel zu selten gezeigten Werken der Protagonisten der Land Art. Sie erschließt auch eine Fülle von kaum bekanntem Material. Im sehr schönen Katalog behandelt Julian Myers Heizers Dragged Mass Displacement, die 1971 in Detroit zu sehen war. Er lokalisiert Heizers Kunst im Kontext der sozialen Spannungen innerhalb der von der Desindustrialisierung gebeutelten Detroiter Bevölkerung und der Erfahrung der Gewalt des Kriegs in Vietnam. Das Klischee der unberührten Natur, in welcher die Land Art angeblich spielt, dekonstruiert auch Emily Scott. Ausgehend von Jean Tinguelys Aktion Study for an End of the World No. 2, zeichnet sie eine detaillierte Geschichte der Wüstengebiete bei Las Vegas. Sie stellt den amerikanischen Westen als Ressource dar, welche seit den 1950er-Jahren von der Armee, der Minenindustrie und der Bauindustrie ausgebeutet wurde. Tinguelys Aktion wurde zwar im Fernsehen gezeigt - sieben Jahre später war die Aktion des Schweizer Künstlers allerdings, wie Scott nachweisen kann, keinem der amerikanischen Protagonisten der Land Art bekannt.

Tom Holert fokussiert auf das Werk von Robert Smithson und Robert Morris. Er weist nach, dass die Protagonisten der Land Art zu ihrer Zeit gerade dank der fotografischen Reproduktion Popularität erlangten. Grundlegend sind seine Überlegungen zu einer Kritik des affirmativen Umgangs mit Fotografie, die er in Les Levines Systems Burn-Off x Residual Software, einer Auseinandersetzung mit der legendären Ausstellung Earth Art von 1969, festmacht. Die Revision einer USA-zentrischen Perspektive zieht sich wie ein roter Faden durch den Katalog. Aufschlussreich ist insbesondere die Analyse der Rolle von München durch Julienne Lorz, wo die Land Art in der Figur des Galeristen Heiner Friedrich ihren wichtigsten Europäischen Förderer fand.

Die Kuratoren lassen die Land Art 1974 abbrechen, abrupt, wie den Abhang einer Mesa, eines Tafelbergs, etwa demjenigen, in den Michael Heizer Double Negative eingeschnitten hat. Warum? Ihre Begründung lautet, dass ab 1974 die Institutionalisierung der Land Art einsetzte, beispielsweise in Form der Gründung der Dia Art Foundation oder des Art Park in Leviston, New York. Ich persönlich würde die Land Art bereits 1971 mit der Schließung der Galerie von Virginia Dwan enden lassen. Aber über Jahreszahlen lässt sich trefflich streiten.

Kritisieren möchte ich hingegen, dass die Kuratoren die Land Art in der Kunst der 1950er-Jahre wurzeln lassen. Hallt darin nicht ein anderer Mythos nach, nämlich derjenige, dass die amerikanische Kunst aus der europäischen Nachkriegskunst erwachse? Ersetzen die Kuratoren nicht einfach die Heroisierung und Popularisierung von Smithson, Heizer und De Maria durch frühere Vaterfiguren wie Yves Klein oder Jean Tinguely? Ersetzen sie die Begrenzung auf die USA nicht durch das dezentrale, westliche Netzwerk, welches die kulturelle und ökonomische Hegemonie zur Zeit des Kalten Kriegs abbildet? Meint das Ende der Land Art gar das Ende der Avantgarden? Fällt die Argumentation damit zurück in die bei der Kunstgeschichtsschreibung so beliebten binären Denkfiguren von Moderne versus Postmoderne, Kritik versus Institutionalisierung, Avantgarde versus Neo-Avantgarde?

Der Mythos, den diese Publikation nicht kritisiert, ist derjenige der Kontinuität, also der Vorstellung der Kunstgeschichte als kohärentes Phänomen, welches sich beliebig kontextualisieren, transformieren und neu konfigurieren lässt. Mit ihren Gegenständen, wie den landschaftlichen und städtischen Terrains, ihrer Materialität, wie Erde oder Baumaterialien und ihren Repräsentationsverfahren, wie Kartografie oder Dokumentarfotografie eignet sich die Land Art besonders gut für diese Argumentation. Kontinuität und Kohärenz innerhalb der Kunstgeschichte ist denn auch das, was die Institutionen der Museen wollen, beziehungsweise selber fortwährend produzieren. Dies mag der Grund sein für den Aufbau einer Ausstellung, welche auf chronologische Linien verzichtet und es den Besuchern überlässt, die von den Kuratoren gewählten Kunstwerke in Beziehung zu setzen. Und es mag der Grund sein für die Struktur des Katalogs. Aus dem diskursiven Grund, eine Art Lagune auf grünlichem Papier, gebildet von kunsthistoriografischen Aufsätzen und Abbildungen, ragen einzelne Inseln auf weißem Papier hervor, in Gestalt von kuratorialen Statements und Interviews. Die Kuratoren der Ausstellung befragen Ihresgleichen. Die Vermessung des Terrains, so könnte man folgern, obliegt Kuratoren und Galeristen wie Willoughby Sharp, Germano Celant, Yona Fischer, Virigina Dwan und dem vor kurzem verstorbenen Seth Siegelaub. Die Stimmen der Künstler und Historiografen hingegen versickern im Grund der Fußnoten.

Daran, dass die Institution des Museums das letzte Wort hat, darf nicht gezweifelt werden. Ganz Los Angeles verfolgte im Frühjahre2012 den Transfer von Michael Heizers bereits in den ausgehenden 1960er-Jahren konzipiertes, erst jetzt realisiertes Projekt Levitated Mass. Der 340 Tonnen schwere Granitblock wurde vom Steinbruch in einem wochenlangen Transport durch die Stadt gefahren. Nun ist er vor dem MOCA, welches bereits im Besitz von Double Negative ist, permanent aufgestellt. Ob als Denkmal für die Land Art oder neuerlicher Stein des Anstoßes, wird sich zeigen.


Philip Ursprung

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Philip Ursprung
Zürich

Redaktionelle Betreuung:

Stefan Gronert