Rezension

Thomas Lange: Das bildnerische Denken Philipp Otto Runges. , Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, 292 S., ISBN 978-3-422-06832-2, 68.00 EUR
Buchcover von Das bildnerische Denken Philipp Otto Runges
rezensiert von Andrea Gottdang, Kunsthistorisches Institut, Universität Salzburg

Nach wie vor steht die 1975 von Jörg Traeger vorgelegte Runge-Monografie [1] als Monolith der Grundlagenforschung über den 1810 verstorbenen Künstler in der kunsthistorischen Forschungslandschaft. Zahlreiche seither erschienene Studien haben, auch und gerade weil sie nicht immer Runge allein gewidmet sind, die von Traeger in den Blick genommenen Aspekte vertieft. Erwähnt seien hier nur die Arbeiten von Busch und Scholl. [2]

Der 200. Todestag Philipp Otto Runges wurde 2010 nicht nur mit einer großen Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle begangen. Er gab auch Anlass zu einer Reihe wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Werk des früh verstorbenen Künstlers sowie zu neuen Publikationen, darunter diejenige von Thomas Lange.

Langes Interesse gilt der Bildauffassung Runges, seinen Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Bild und Wirklichkeit sowie der Entwicklung einer eigenen Bildsprache, die mit der traditionellen bricht und in die Moderne weist. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die von Runge selbst betonte Wissenschaftlichkeit seiner bildnerischen Bemühungen.

Als Ausgangspunkt dienen Lange Runges Verbildlichungen der Ossian-Dichtung Macphersons, die mit bildwissenschaftlicher Fragestellung Nano-Analysen unterzogen werden, die u.a. der Ikonik Max Imdahls verpflichtet sind. Die acht Zeichnungen schließen sich durch "Nebensachen" wie Requisiten und Kostüme zum Zyklus zusammen. Langes Anliegen ist es, in der akribischen Untersuchung des Einsatzes der gestalterischen Mittel zu zeigen, wie Form und Inhalt sich durchdringen. Er interpretiert die Ossian-Zeichnungen als Reflexion über den Verlauf von Geschichte. Wesentliches Merkmal der neuen Kunst Runges sei die Auffassung bzw. Visualisierung der Zeit, der Künstler nehme Begebenheiten als dynamisches Geschehen wahr und schaffe raum-zeitliche Ereignisstrukturen. Der Raum entsteht demnach durch Bogenverläufe, konvexe und konkave Krümmungen und Handlungsvektoren. Ziel Runges sei es, das Bildgedächtnis des Betrachters zu aktivieren.

Mit Blick auf die Naturwissenschaften, die sich in Partikularforschungen spezialisierten und keine Lizenz zur Welterklärung mehr besaßen, erheben Runges Bilder den Anspruch, Einblicke in das große Ganze zu geben. Bild und Welt folgen dabei nicht denselben Gesetzen, die Bildhandlung sei nicht zu verwechseln mit dem realen Geschehen, weshalb "Natürlichkeit" der Darstellung auch keine Kategorie mehr ist, auf die der Künstler verpflichtet ist und die der Betrachter als Maßstab anlegen kann.

Die an den Ossian-Analysen ins Zentrum gerückten Mittel der Linie und der Form werden im Folgenden um die - bis dahin bereits latent mitschwingenden - Mittel Licht und Farbe erweitert. Wie Lange wiederholt betont, betrieb Runge seine Farbtheorien nicht in Konkurrenz zu Newton, zumal es ihm ausschließlich um ihre künstlerisch relevanten Bedingungen ging. Lange erläutert, wie Runge seine Theorie mittels geometrischer Zeichnungen, die ihm als visuelle Elemente der Wissensvermittlung dienten, Schritt für Schritt nachvollziehbar macht und verweist auf ältere Diagramme, mit deren Hilfe Unanschauliches anschaulich gemacht wird, darunter Figuren, die in Handbüchern zur Navigationskunst und Seekarten zu finden sind.

Dass Kunst nicht Natur darstellen, sondern etwas über Kunst enthüllen soll, gilt auch für die botanischen Studien, in denen Runge die Architektonik der Blüten und ihre Geometrie sichtbar macht. Die aus der Naturbeobachtung gewonnenen Einsichten werden mithin im Bild transformiert.

Von den botanischen Studien führt der nächste Schritt zu den Arabesken, in denen die neu gewonnene Freiheit der bildnerischen Mittel und somit die Form als Ausdrucksträger triumphiert und zwischen Gegenstandsform und gegenstandsloser Form changiert. Auch hier kreisen die zentralen Argumente um die Linie, der Lange eine Schlüsselrolle zuspricht und deren Funktion, Zeit zu visualisieren, er beschreibt. Doch auch die Farbe, die durch die Beweglichkeit ihrer Mischungen - in alle Richtungen in Zeit und Raum - charakterisiert ist, ist ein "Schlüsselmedium".

Lange verfolgt seine Leitthemen auch bei den in Öl ausgeführten Hauptwerken, den "Hülsenbeckschen Kindern" und den "Eltern des Künstlers" und analysiert auch hier, wie die bildnerischen Mittel eingesetzt werden, um Aussagen über Geschichte zu treffen.

Angesichts seiner akribischen Bildanalysen bittet Lange selbst den Leser in der Einleitung um Geduld. Jede seiner Analysen ist anregend und erhellend, und es ist kaum genug zu loben, wenn nicht nur die Bildbetrachtung entschleunigt, sondern der Ausgang von den Bildern selbst genommen wird. Allerdings stellte sich doch die Frage nach der Funktionalität und der Wortökonomie - dies gilt auch für die Argumentationen, die Redundanzen aufweisen und oft mehrfach ansetzen, um einfach Sachverhalte zu vermitteln. So entgleiten nicht nur die Untiefen, sondern leider zuweilen auch die Tiefen der Interpretation dem Blick in einem gewaltigen Wortmeer.

Langes Blick führt von Runge aus ins 20. Jahrhundert, Merleau-Ponty ist eine wiederholt zitiert Referenzgröße. Dass die Radikalität und Modernität von Runges Auffassung zweifellos die Frage nach seiner Bedeutung bis ins 20. Jahrhundert zulassen, ist wohlbekannt. Doch sollte dieser Brückenschlag Runge nicht aus seiner historischen Verankerung reißen. Zurück - auf Runges Auseinandersetzung mit der Sinnbildkunst, zum Beispiel Emblemen und Hieroglyphik - schaut Lange selten. Diese Blickrichtung hat zwar bereits Scholl in einer erhellenden Studie genommen (die Lange übrigens nicht erwähnt), doch wäre es fruchtbar, die Ergebnisse beider Perspektiven zusammenzuführen. Obwohl Lange auch Bezüge zur literarischen und philosophischen Frühromantik herstellt, schreibt er den Bildern Runges doch eine Autonomie zu, die man durchaus ebenso anzweifeln darf, wie die vorausgesetzte Identität des heute verwendeten Bildbegriffs mit dem Runges. Der Sprachgebrauch Runges wäre dabei einer Untersuchung wert.

Der von Lange mantraartig wiederholte Ausspruch Runges, "Alles, was wir sehen, ist ein Bild", fordert einen Zugang mit bildwissenschaftlichen Fragestellungen geradezu heraus. Doch ist er keineswegs neu. Da Runges Kunstauffassung um das Bilden, die Kunst und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit kreist, waren entsprechende Fragen letztlich immer zentral - allerdings wurde in vor-bildwissenschaftlichen Forschungen meist nicht von "Bildern", sondern von "Kunstwerken" oder "Gemälden" gesprochen. Daher verwundert es eigentlich nicht, dass Lange weniger wirklich überraschende Ergebnisse aufweist, als vielmehr, wie in einer Gegenprobe, alte Einsichten auf einem Lösungsweg, der auf die Analyse der gestalterischen Mittel vertraut, bestätigt.


Anmerkungen:

[1] Jörg Traeger: Philipp Otto Runge, München 1975.

[2] Werner Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985; Christian Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern, München und Berlin 2007.


Andrea Gottdang

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Rezension von:

Andrea Gottdang
Kunsthistorisches Institut, Universität Salzburg

Redaktionelle Betreuung:

Ekaterini Kepetzis