Rezension

Hans-Jürgen Lechtreck: Die Äpfel der Hesperiden werden Wirtschaftsobst. Botanische Illustration und Pomologie im 18. und frühen 19. Jahrhundert, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2000,
Buchcover von Die Äpfel der Hesperiden werden Wirtschaftsobst
rezensiert von Iris Lauterbach, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München

Hans-Jürgen Lechtreck widmet sich dem "Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im 18. und frühen 19. Jahrhundert" (10) und zwar am Beispiel der Pomologie, der Obstbaumkunde, und untersucht deren verschiedene bildliche und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten. Seine Forderung, die Kunstgeschichte solle auch für die Untersuchung der botanischen, hier: der pomologischen Illustration die Methoden und Fragestellungen einsetzen, "die ihre Forschungen über andere Bildüberlieferungen seit Jahrzehnten bestimmen" (240), ist legitim. Er will Funktion und Rezeption dieser Bildgattung in ihrem historischen Kontext analysieren und ihren Standort in der "visuellen Kultur" (ebda) ihrer Zeit definieren. Es "existierte (...) mit der Pomologie eine Form von botanischer Wissenschaft, die naturgetreue Pflanzendarstellungen nicht nur zu Dokumentationszwecken oder zur Illustration ihrer Theorie gebrauchte, sondern deren Herstellung und Wirkungskraft als Kunstwerke sui generis als ein Bestandteil und Ergebnis ihrer wissenschaftlichen Praxis ansah." (244) "Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts war die pomologische Praxis der Kultivierung und Veredlung von Obstbäumen eine Art von Kunsthandwerk im Dienst der Gartenkunst und die von ihr hervorgebrachten Früchte ästhetische Gegenstände, die als Kunstwerke auf Zeit auf der herrschaftlichen Tafel Verwendung fanden. Aus diesem Grund unternahm die pomologische Theorie (...) den Versuch einer ästhetischen Klassifikation naturhistorischer Gegenstände und formulierte ihre Ergebnisse als ästhetische Erfahrung. Darin unterscheidet sie sich grundlegend von der gleichzeitig sich formierenden naturwissenschaftlichen Botanik." (240) Die unter dem Oberbegriff der botanischen Illustration zusammengefaßten verschiedenen Bildgattungen werden zu häufig lediglich nach dem Maß gemessen, ob sie naturgetreue Wiedergaben seien oder nicht. Hingegen betont Lechtreck: "in der Pomologie hing die Funktionalität dieser Bilder weniger von ihrer Naturtreue im Sinne eines naturwissenschaftlichen Realismus ab, als von ihrer Wirkungskraft als Kunstwerke, d.h. inwiefern es ihnen gelang, die Sinnbildlichkeit der Natur oder einer vom Menschen gestalteten (kultivierten) Natur anschaulichzu machen." (252)

Um die "visuelle Kultur" zu umreißen, in der im 18. und frühen 19. Jahrhundert pomologische Illustrationen angefertigt wurden, greift Lechtreck weit aus und untersucht so manches, was mit Baum und Obst zu tun hat: Im ersten Kapitel ("Strukturwandel der Kulturlandschaft") behandelt er den Ausbau der Kulturlandschaft zum Wirtschaftsraum, die Anfänge der Forstwirtschaft, Obstbäume im Garten sowie den großflächigen Erwerbsobstanbau. Das zweite Kapitel ("Form und Funktion pomologischer Kenntnisse") widmet sich in einem ersten Abschnitt der historischen Theorie, Nomenklatur, Literatur und Illustration. Es schließen sich Passagen an über die "Tätigkeit des Baumgärtners als symbolische Handlung und Erwerbsarbeit", gefolgt von einem langen Abschnitt über "Früchte als ästhetische Gegenstände", als Tafelzier, Genußmittel und Sammlungsgegenstände.

Wer von Lechtrecks Dissertation aufgrund ihres Obertitels Aussagen zur Gattung Zitrus erwartet - die nach der antiken Mythologie mit der Umschreibung als "äpfel der Hesperiden" bekanntlich gemeint sind -, wird enttäuscht. Die Bedeutung der Zitruskultur in barocker Herrscherikonographie wird in Lechtrecks Buch lediglich en passant erwähnt, botanische Werke oder Illustrationen zu der bemerkenswerten Sortenvielfalt der Gattung Zitrus finden keine Beachtung. Der behandelte Zeitraum reicht vom 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert. Die weit entwickelte französische botanische und pomologische Literatur des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wird nur gestreift. Dies ist insofern bedauerlich, als die entsprechenden Bemühungen im restlichen Europa der französischen pomologischen Forschung vielfach verpflichtet waren. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden deutsche Gärtner gerade zur Ausbildung in Botanik und Pomologie nach Frankreich geschickt. Ließe sich das 17. Jahrhundert notfalls noch mit einem zusammenfassenden Rückblick abhaken, so ist für das Zeitalter der Aufklärung und das frühe 19. Jahrhundert die Beschränkung der Material- und Textauswahl auf deutsche und englische Quellen um so fragwürdiger. Die Grande Encyclopédie wird erstaunlicherweise nur mit dem Stichwort "Chirurgie" zitiert, die u. a. für ihre Bemühungen um botanische (und damit auch pomologische) Klassifikation weit über die Landesgrenzen hinaus renommierten Forscher Georges-Louis Buffon und Bernard de Jussieu werden nur am Rande erwähnt.

Versucht der Leser Lechtrecks Ausführungen durch einen Blick auf die Quellen nachzuvollziehen, so macht sich mit fortschreitender Lektüre Skepsis breit. Die Auswahl der Quellen, auf die sich der Autor beruft, überzeugt nicht immer. Kaum einen der zitierten englischen und deutschen Texte scheint Lechtreck im Original zu kennen, denn in den meisten Fällen folgt er der Sekundärliteratur, selbst bei Texten, die im Reprint vorliegen und daher leicht zugänglich sind. An deutscher Literatur ist Hirschfelds Theorie der Gartenkunst offenbar das Allheilmittel, desselben Autors Handbuch der Fruchtbaumzucht, das zum Thema sicher etwas zu bieten hätte, wird hingegen nicht erwähnt. Die mit zahlreichen Illustrationen versehene mehrbändige Pomona Franconica des in Paris ausgebildeten Würzburger Hofgärtners Johann Prokop Mayer, sicher ein Hauptwerk der deutschsprachigen pomologischen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, hätte der Leser gerne eingehend gewürdigt gefunden. Zusätzlich zu Husserl und Hildesheimer sähe man gerne auch Friedrich Ludwig von Sckell zitiert, dessen Beiträge zur bildenden Gartenkunst zum Thema Landschaftsgarten und Baum einiges beitragen können, dessen Namen Lechtreck aber offenbar nur aus der fehlerhaften Arbeit Hannwackers kennt.

Lechtrecks Aussagen über die Gartenkunst des 18. Jahrhunderts sind häufig nicht auf dem neueren Forschungsstand. Die Aussagen etwa, dass "Artenreichtum kein Gestaltungselement im Sinne der Stilgeschichte" (66) sei, oder dass eine "'friedliche Koexistenz'" zwischen "barocker Gartenanlage und Landschaftsgarten" nicht "zur Regel werden konnte" (97) sind undifferenziert und belegen, dass der Autor die Gartenforschung der letzten zehn bis zwanzig Jahre nur unzureichend zur Kenntnis genommen hat. Gartenhistorische Fachbegriffe werden falsch oder ungenau definiert: Eine Quinkunx etwa ist kein "Bosketten miniature" (66) - sollte Lechtreck tatsächlich meinen, eine Quinkunx bestehe lediglich aus fünf Bäumen und habe daher Miniaturformat?

Skepsis befällt den Leser auch angesichts der zitierten Beispiele: Weitreichende Schlüsse zieht Lechtreck aus der Analyse weniger Gärten, deren Auswahl er nicht begründet und die man kaum repräsentativ nennen kann. Wieso S. 83f. etwa ein von Gisela Thietje publizierter Vertragstext von 1710 über den Verkauf eines Mühlengartens in Eutin mit einer Karte eines Essener Mühlengeländes von 1812 illustriert wird, um "die Ausstattung eines bürgerlichen Gartens in der Tradition des bäuerlichen Gartenbaus zu demonstrieren", bleibt unverständlich.

Bei fortschreitender Lektüre irritiert zudem immer mehr, dass Lechtreck großflächig und ohne eine sinnvolle Auswahl zu treffen aus der Sekundärliteratur zitiert. Viele Sätze sind gleich mit mehreren Zitatversatzstücken und Anmerkungen gespickt, so dass auf 255 Druckseiten Text die bemerkenswerte Anzahl von 1317 Anmerkungen zustandekommt. Sicher ein Drittel davon hätte entfallen können, hätte der Autor selber formuliert statt andere zu zitieren. Eine kritische Textredaktion hätte dazu beitragen können, den Text und den Apparat zu entschlacken. Leider fehlt ein Register, das zur Lokalisierung der vielen im Text zitierten Personen- und Ortsnamen von Nutzen gewesen wäre. Der Leser muss sich so die über das Buch verstreuten interessanten und neuen Passagen und Erkenntnisse herausklauben.


Iris Lauterbach

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in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 3,

Rezension von:

Iris Lauterbach
Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr