Andrea del Sarto und die “Schule der Annunziata”

Im Künstlerviertel in der Nähe der Kirche Santissima Annunziata und nicht weit entfernt von San Marco ließ sich 1511 der etwas jüngere Andrea d’Agnolo, genannt del Sarto (1486–1530), nieder. Seine Fresken im Vorhof der Kirche(Chiostrino de’voti), die er in drei Phasen von 1509 bis 1514 malte, waren der Auftakt zu einer glanzvollen Karriere, die ihn kurzzeitig (1519–20) an den französischen Hof führte. Das 1447 von Michelozzo errichtete Atrium der Kirche >L.IV.4, damals wie heute eine der populärsten und meist frequentierten Kirchen der Stadt, diente zur Aufbewahrung von Votivbildern („voti“) für das als wundertätig verehrte Verkündigungsfresko im Inneren der von den Serviten verwalteten Kirche. Der Ort stand damit im Zentrum größter Aufmerksamkeit und dieses Faktum kam auch den Fresken zugute. Mit den beiden ersten Wandbildern von Alessio Baldovinetti (1463) und Cosimo Rosselli (1478) war das zukünftige ikonographische Programm der Ausmalung vorgegeben: Maria als Patronin des Ordens und der Selige Filippo Benizzi als Ordensgründer. Andrea del Sartos Fresken im Atrium der Annunziata gehören zu den bedeutendsten Werken dieser Jahre und lassen eine deutliche stilistische Entwicklung erkennen, die auch auf seine Romreise zurückgeführt wird, auf der ihn offenbar Pontormo und Rosso Fiorentino begleitet haben. Von 1509 bis 1510 entstanden auf der Ostseite seine fünf Szenen aus der Geschichte des Filippo Benizzi, deren erzählerische Vielfalt und landschaftlicher Reichtum venezianisch inspirierte Elemente in die Florentiner Malerei einführte. Die symmetrische und auf wenige Figuren konzentrierte Szene der Heilung durch die Reliquien des Filippo Benizzierinnert vor allem in der architektonischen Gestaltung an Raffaels Architekturprospekt in der Schule von Athen >L.XIII.2. 1511 entstand der Zug der drei Könige, eine einfallsreiche und in ihrer asymmetrischen Gewichtung neuartige Komposition, die mit dem Motiv der weiten Landschaft formal auf ihr Pendant, die Geburt Christi von Baldovinetti antwortet. Die neuere Forschung geht davon aus, dass der junge Rosso Fiorentino, der damals Andreas Schüler war, eine seinen eigenwilligen späteren Stil vorweg nehmende Figur in diesem Fresko gemalt hat. Die um 1514 entstandene Geburt Mariae greift einerseits auf die Florentiner Bildtradition dieses Themas zurück, besitzt aber eine Monumentalität, die aus der Vereinfachung und der großen Geste resultiert. Die kompositionelle Disposition verweist außerdem auf den entsprechenden Stich in Albrecht Dürers Marienleben von 1503. Wie Vasari betont, bediente sich Andrea del Sarto in diesen Jahren häufiger der Kupferstiche Dürersund sowohl Rosso Fiorentino wie Pontormo folgten ihm darin.

Mit den sieben Wandbildern, die Andrea del Sarto in einem relativ kurzen Zeitraum geschaffen hat, bewältigte er den Löwenanteil der Ausmalung des Chiostrino de‘voti. Von den verbleibenden Szenen fiel eine auf seinen Freund und Ateliergenossen Francesco di Cristofano, genannt Il Franciabigio (1482–1525), der die Vermählung Mariae malte, während die beiden letzten Szenen des Marienzyklus auf seine Schüler Pontormo und Rosso Fiorentino entfielen. Den zeitlichen Rahmen für den Marienzyklus, mit dem die Ausmalung abgeschlossen wurde, geben die Jahre zwischen 1513 und 1516. Rossos expressiv aufgeladene Himmelfahrt Mariae ist das früheste dokumentierte Werk dieses exzentrischsten Malers, der aus dem Florentiner Ambiente hervorgegangen ist. Pontormos Heimsuchung Mariae, die zwischen 1514 und 1516 entstand, erscheint mit ihrer Orientierung an Raffael, und vor allem an dessen Schule von Athen >L.XIII.2 dagegen fast klassisch. Bedenkt man, dass Pontormo zusammen mit seinem Lehrer und seinem Mitschüler Rosso in Rom gewesen war und dort wohl das gleiche Programm absolviert hat wie diese, so wird die Differenz ihres persönlichen Stils (maniera) umso deutlicher.

Die Beauftragung mehrerer Künstler für ein Ensemble hat eine gewisse Auffälligkeit, wofür einerseits die pragmatisch motivierten Arbeitsabläufe und Arbeitsphasen verantwortlich waren − Fresko wurde nur im Sommer gemalt. Andererseits kommt aber hier die für Florenz so typische Konstellation der Künstlerkonkurrenz zum Tragen, die seit den Statuennischen von Orsanmichele >L.V.6 ein Motor der künstlerischen Veränderungen in dieser Stadt war. Als Ursache für die Konkurrenz zwischen Andrea del Sarto und Franciabigioauf der einen und Pontormo und Rossoauf der anderen Seite ist der Ehrgeiz von zwei wichtigen Persönlichkeiten des Konvents vermutet worden, die als Auftraggeber agierten. Zweifellos ergab sich aus einer so exponierten Vergleichssituation ein gewisser Profilierungsdruck, der die Dynamik des Wettbewerbs verstärkte. Pontormo und Rosso sind die beiden wichtigsten Exponenten des Florentiner Manierismus und ihr späteres Schaffen zeigt, wie weit sie sich schließlich von den gemeinsamen Anfängen und Andrea del Sarto entfernen sollten. Als Porträtisten traten sowohl Pontormo wie auch Rosso Fiorentino in die Fußstapfen ihres Lehrers, teilen sich aber in dieser Bildgattung einen eigenwilligen und ausdrucksvollen Duktus, bei dem die individuellen Unterschiede ihres individuellen Stils (maniera) weniger evident sind.

 

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