Vasaris Entwicklungsmodell und seine Grenzen

Vasaris Geschichtsmodell basierte auf der hegemonialen Position von Florenz >L.I.2. In Florenz war es seit zwei Jahrhunderten die Regel, dass eine Generation von Künstlern aus der vorherigen hervorwuchs, so dass sich eine auch verbal reflektierte Kette der Überlieferung herausbildete, die vom 14. bis zum 16. Jahrhundert reichte und die den Beteiligten bewusst und präsent war. Wie Vasaris Darstellung von Raffaels Werdegang verdeutlicht >L.XI.8, hatte ein talentierter, aus der Provinz stammender Künstler immerhin die Chance, sich durch die intelligente und zielstrebige Aneignung der künstlerischen Leistungen aus einer Randposition ins Zentrum zu bringen und dort zu profilieren. Nicht wenige der von Vasari verfassten Künstlerbiographien belegen, wie die Künstler aus der Provinz an einen Ort streben, der durch Konkurrenz und Wettbewerb neue Ideen entstehen ließ. Nach dieser Vorgabe zählte in der Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie allerdings nur die Richtung, die zum Zentrum hinführte. Charakteristisch dafür ist Vasaris Kommentar zu DonatellosAufenthalt in Padua, der von 1444 bis ca. 1453 währte, bzw. zu seiner Rückkehr nach Florenz: „Er beschloß daraufhin, nach Florenz zurückzukehren, weil das einhellige Lob, wie er sagte, ihn alles vergessen lassen würde, was er wußte, sofern er noch länger dort bliebe, weshalb er gerne in seine Heimat zurückkehrte, wo ihn zwar nichts als fortlaufende Kritik erwartete, eine Kritik allerdings, die Anlaß zum Studium sein würde, und damit die Grundlage zu noch größerem Ruhm.“ Die Konfrontation der Künstler mit der Kritik und den Konkurrenten war demnach ein Stimulans, auf das die Florentiner stolz waren, da es sie zu höheren Leistungen anspornte. Dieses Entwicklungsmodell, dem Vasari seine biographische Sammlung unterwarf, basierte auf dem Fortschrittsprinzip, das sich aus Unterweisung, Lernbereitschaft und Konkurrenz konstituiert hatte. Der von Vasari als maniera moderna bezeichnete Stil, den Leonardo, Michelangelo und Raffael etabliert hatten, setzte Maßstäbe, an denen seitdem auch die Künstler anderer italienischer Zentren und Territorien gemessen wurden. Die dort gültigen künstlerischen Parameter, die auf der Dominanz bestimmter Meister und auf der traditionellen Prägung durch Bildtypen oder einzelne Werke beruhten, verloren so an Autorität.

Als Gegenmodell zur monozentristischen Perspektive Vasaris wurden im 20. Jahrhundert die biographisch fokussierte Sichtweise, die den Künstler und sein direktes Umfeld auf Einflüsse und Nachwirkungen hin sortiert sowie die topographische Klassifizierung nach den ursprünglichen Standorten der Werke praktiziert. Auf diese Weise wurde die polyzentrische Struktur der italienischen Kunst besser sichtbar. Aufträge, die von einzelnen Personen – also regionalen Herrschern oder Stiftern – an auswärtige Künstler vergeben wurden, wirkten in der Tat häufig auf den lokalen Kunstgeschmack ein, der sich infolgedessen von der Bindung an eigene lokale Traditionen löste. So lässt sich zeigen, dass Raffaels hl. Caecilie, die 1514 für Bologna gemalt wurde , dort nachgeahmt und zum Ausgangspunkt einer neuen Stilrichtung wurde. Eine weitere Variable brachten Künstler ein, die am kulturellen Transfer beteiligt waren, sobald sie an mehreren Orten tätig waren und auf diese Weise Erfahrungen und Innovationen in entlegene Gebiete transportierten. Zwischen den ortsansässigen und den wandernden Produzenten von Kunst kam es zu relevanten Unterschieden, die sich dem chronologischen Schema entziehen. Die bis in die jüngere Vergangenheit praktizierte Methode der stilistischen Klassifizierung innerhalb chronologischer und topographischer Rahmenbedingungen konnte diese Differenziertheit nicht nachzeichnen und versagte wegen der normierenden Begriffe Renaissance und Manierismus häufig vor den zu bearbeitenden und zu erfassenden Beständen.

Eines der Ziele der neueren italienischen Kunstwissenschaft war es daher, das methodische Modell abzulösen, das einerseits auf dem seit Vasari allgemein akzeptierten Entwicklungsgedanken basierte und andererseits den einzelnen lokalen Schulen Rechnung trug, die seit Lanzi ihrerseits nach Epochen unterteilt wurden und dabei den Maßstab der Eigenständigkeit und der Teilnahme an innovativen Tendenzen anlegten. Generell wurde mit dem Begriff „Zentrum“ die Vorstellung von einem expandierenden und normsetzenden Stil verbunden, während „Peripherie” per se als Synonym für künstlerische Beschränktheit und Rückständigkeit galt. Die politische Wertigkeit der beiden Begriffe zeigt sich daran, dass derjenige, der sich im postulierten Zentrum befindet, die Deutungshoheit darüber beansprucht, was als peripher anzusehen ist. Diese von der kunsthistorischen Forschung auf den Spuren der älteren Kunsthistoriographie bis ins 20. Jahrhundert hinein praktizierte Methode der Zentrumsbestimmung schuf eine unilaterale hierarchische Abhängigkeit, die auf der Gestaltungsmacht der normgebenden Instanzen beruhte und sie perpetuierte. Die Geschichte wurde vom Standpunkt des Siegers aus geschrieben. Einen über diese Sicht hinausführenden methodischen Ansatz bot erst die von Previtali und Zeri herausgegebene „Geschichte der italienischen Kunst“, in der u.a. die Periodisierung und die Relation zwischen Zentrum und Peripherie neu gewichtet wurden. Im Sinne einer polyzentrischen Perspektive wurde letztere „nicht als eine unabänderliche Beziehung zwischen Innovation und Rückständigkeit“ definiert, sondern als Option auf die Befreiung von Normen, die zur Einhaltung von bestimmten Stilparametern verpflichten. Eine Peripherie, die sich den Normen und der Kritik durch die Konkurrenz nicht unterwirft, bewahrt sich die Freiheit, andere oder keine künstlerischen Normen zu befolgen. Um einen Pfad zu finden, der die Bestandsaufnahme des Vorhandenen mit einem einprägsamen Schema verbindet, soll im Folgenden nach dem Kriterium ihrer Berührung mit Rom gefragt werden. Als Extremfälle der stilistischen Annäherung an Rom beziehungsweise der Entfernung von Rom sollen im folgenden einige oberitalienische Maler näher betrachtet werden, die etwas jünger als Raffael waren und die in Rom mit der maniera moderna in Berührung gekommen sind.

 

zu 2. Sebastiano del Piombo und Pordenone