Das Juliusgrab und seine Entwurfsstadien (1505-1545)

Im Februar 1505 wandte sich Julius II. an Michelangelound erteilte ihm den schriftlich nicht überlieferten (oder nicht fixierten) Auftrag zu seiner Grablege. Aus einer Reihe von Entwürfen suchte der Papst die aufwendigste Version aus, nämlich ein Freigrab von gewaltigen Dimensionen, das sich aus den Beschreibungen Vasarisund Condivis, der beiden Biographen Michelangelos, sowie aus dem nur teilweise zur Verwendung gekommenen Bestand an Skulpturen in den wesentlichen Zügen rekonstruieren lässt. Die verworrene Geschichte des Grabmalprojektes und die vagen Aussagen der schriftlichen Quellen und Zeugnisse sowie der Mangel an bildlichen Dokumenten haben seit fast zwei Jahrhunderten der Forschung zahlreiche Impulse gegeben, was viele neue Fakten zutage förderte, aber auch eine kaum mehr überschaubare Sekundärliteratur produziert hat. Die monographische Darstellung von Echinger-Maurach (1991) hat dieses Material neu geordnet und ausgewertet, so dass heute der Wissensstand als abgesichert gelten kann. Die folgende Schilderung stützt sich im Wesentlichen auf vier Zusammenfassungen neueren Datums

Das Vasari zufolge mit einer inneren und begehbaren Grabkammer in Ovalform auszustattende Monument, das sich in zwei Stockwerke unterteilte, sollte sich nach dem ersten Plan Michelangelos freistehend auf einem rechteckigen Grundriss mit den Maßen 18 x 12 Ellen (braccia) erheben, was etwa 10,80 x 7,20 m entspricht. Als Honorar wurden 10.000 Goldflorin vereinbart und für die Ausführung fünf Jahre veranschlagt. Die insgesamt 40 Skulpturen, die auf den vier Seiten des hausartigen Gebildes platziert werden sollten, verteilten sich nach Vasari und Condivi wie folgt: die zwei Nischen der beiden Schmalseiten und die vier Nischen der beiden Längsseiten wurden im unteren Geschoss von Hermenpfeilern getrennt, auf deren Köpfe das Gesims ruhte und an die vor ihnen stehende Figuren von nackten „Gefangenen“ gefesselt waren, die auf hervorspringenden Postamenten standen. Sie sollten die von Julius II. unterworfenen Provinzen Italiens personifizieren. Für die zwölf Nischen waren Personifikationen von Tugenden und Künsten vorgesehen, die ebenfalls gefesselt waren, um anzuzeigen, dass sie ebenso wie der Papst, der sie so gefördert hatte, dem Tod unterworfen waren. Über den Ecken des Abschlussgesimses sollten vier Figuren Platz finden, nämlich Personifikationen der vita activa und der vita contemplativa, sowie der Apostel Paulus und Moses. Das zurückspringende und sich verjüngende Obergeschoss des Gehäuses sollte mit einem Fries von Bronzereliefs mit den Taten des Papstes geschmückt werden. Als Bekrönung war laut Vasari ein Sarkophag (bara, bei Condivi arca) vorgesehen, der von zwei Figuren (bei Condivi angeli) gehalten wurde, die den Himmel und die Erde personifizierten. Eine Darstellung des Papstes, dessen sterbliche Überreste in der inneren Grabkammer in einem Sarg beigesetzt werden sollten, wird weder von Vasari noch von Condivi erwähnt. Aufgrund der Bildquellen zum zweiten Entwurf von 1513 und anderer Anhaltspunkte hat Panofsky eine das Ganze bekrönende Sitzfigur des Papstes angenommen. Wenngleich das bronzene Grabmal Sixtus IV. als typologisches Vorbild für diese Struktur gilt >L.VII.7, ist allein aufgrund der Größe und des reichen Statuenschmucks ersichtlich, dass die Vergleichsparameter für dieses Monument und sein „paganes“ Bildprogramm eher in der Antike gesucht werden müssen, die hier nach Vasaris Worten übertroffen werden sollte.

Condivi zufolge beauftragte der Papst Michelangelo mit der Suche nach einem geeigneten Aufstellungsort, woraufhin dieser vorschlug, es in dem unter Nikolaus V. begonnenen Chorneubau von Sankt Peter aufzustellen, dessen Umfassungsmauern bis dahin nur die Höhe von ca. 1,75 m erreicht hatten. Julius II. betraute daher Bramante mit der Ausarbeitung eines Projekts, das die Voraussetzungen für die Aufstellung des Grabmals klären und schaffen sollte. Nach Vasaris Darstellung wurde Bramantes Entwurf auslösend für den Entschluss zum Neubau von St. Peter >L.IX.5, den der Papst fasste, während sich Michelangelo acht Monate lang in Carrara aufhielt, um dort die Marmorblöcke für das Grabmal auszusuchen und zu bossieren. Alser im Dezember 1505 nach Rom zurückkehrte, und nachdem er den Transport der Marmorblöcke und zweier bereits bossierter Figuren nach Rom veranlasst hatte, fand er dort jedoch eine neue Situation vor, die sich daran zeigte, dass der Papst sich mehrfach weigerte, ihn zu empfangen. Einen Tag vor der Grundsteinlegung des Neubaus von St. Peter am 18. 4. 1506 >L.IX.5 reiste er ohne Vorankündigung nach Florenz ab. Julius II. richtete daraufhin drei Briefe an die Regierung von Florenz, in denen er die Stadtväter dazu aufforderte, Michelangelo zur Rückkehr nach Rom zu bewegen. Im Sommer 1506 unternahm Julius II. seinen siegreichen Feldzug nach Perugia und Bologna. Angesichts dieser Gefahr für die Republik Florenz verlangte Pier Soderini als Sprecher der Florentiner Regierung >L.VIII.3 von Michelangelo L.VIII.5, dem Wunsch des Papstes nachzukommen. Am 21. November 1506 begab sich Michelangelo daher nach Bologna und erhielt dort vom Papst den Auftrag zu dessen kolossaler Ehrenstatue aus Bronze, die am 21. Februar 1508 in der Fassade von San Petronio aufgestellt wurde, jedoch bereits 1511, nach der kurzzeitigen Rückeroberung der Stadt (1511–1513) durch die Franzosen wieder zerstört wurde. Am 10. Mai 1508 kam es in Rom zu einem Gespräch des Künstlers mit dem Papst, das mit dem Auftrag zur Ausmalung der Sixtinischen Decke endete >L.XII.2. Spätestens ab diesem Zeitpunkt scheint Julius II. die Idee des Monuments nicht weiter verfolgt zu haben. Vasari schreibt diese Sinnesänderung dem Einfluss Bramantes zu, der Julius II. davon überzeugt habe, dass „es ein schlechtes Omen sei, sein Grabmal bereits zu Lebzeiten zu errichten“. Die Planung für das Grabmal wurde erst wieder nach seinem Tod (21. Februar 1513) akut. Der am 6. Mai 1513 mit den Testamentsvollstreckern des Papstes geschlossene neue Vertrag sah die Fertigstellung des nun nicht mehr freistehenden und deutlich kleineren Grabmals (20 x 35 palmi romani = 4,46 x 7,81 m) innerhalb einer Frist von sieben Jahren vor, zugleich aber ein um 6500 Dukaten erhöhtes Honorar, von denen die bereits an Michelangelo gezahlten 3500 Dukaten abgezogen wurden. Nach neueren Berechnungenhat ihm der Auftrag insgesamt 11.872 Dukaten eingebracht.

Mit dieser Phase des Projekts werden mehrere Zeichnungen in Berlin und in Florenz verbunden. Auffällig ist das neue Motiv einer Maria mit dem Kind, das an die Stelle der früher geplanten Bekrönung tritt. Wo das mit einem reduzierten Bildprogramm versehene Grabmal nach dem Vertrag von 1513 aufgestellt werden sollte, bleibt angesichts der damals durch den Neubau bereits veränderten baulichen Situation von St. Peter unklar. Offen ist auch, welche Teile des ursprünglich mit 40 Figuren zu bestückenden Monuments zu diesem Zeitpunkt ausgeführt waren. Heute geht man davon aus, dass Michelangelo in den folgenden Jahren an den beiden Gefangenen (prigioni) gearbeitet hat (Paris, Louvre), die später aus dem Kontext des Grabmals gelöst wurden und die er 1546 seinem Jugendfreund, dem Bankier Roberto Strozzi geschenkt hat. Auch die monumentale Sitzfigur des Moses, die wohl nicht von Anfang an zum Bildprogramm gehört hat , wurde nach allgemeiner Ansicht zwischen 1513 und 1516 weitgehend vollendet. Nur C.L. Frommel spricht sich für eine spätere Entstehung aus. Außer ihr gingen nur die architektonischen und ornamentalen Teile des mit Nischen und Hermenpilastern versehenen Untergeschosses, die 1513–1514 im Auftrag Michelangelos von dem Steinmetz Antonio da Pontassieve ausgeführt wurden, in das endgültige Monument ein, als dessen Standort seit 1532 die Kirche San Pietro in Vincoli feststand. In einer Vereinbarung zwischen den della Rovere-Erben und Michelangelo vom 8. Juli 1516 kam es zu einer weiteren Reduzierung der Abmessungen und des skulpturalen Bildprogramms und zu einer nochmaligen Fristverlängerung auf neun Jahre. Die politischen Verhältnisse und die Lebens- und Arbeitsumstände Michelangelos verzögerten auch in den folgenden Jahren die Realisierung des Grabmals.

1518 ließ sich Michelangelo wegen des Auftrags zur Fassade von San Lorenzo wieder in Florenz nieder >L.XII.6 und ab 1519 entstanden hier die später in den Besitz Cosimo de’Medicis gelangten sogenannten Boboli-Sklaven (Florenz, Galleria dell’Accademia), die dem Projekt von 1516 zugeordnet werden. Als Atlanten sollten sie wohl an die Stelle der Hermenpilaster des Untergeschosses treten, wobei die beiden stärker bewegten Figuren des Atlas und des Erwachenden als Eckfiguren gedacht waren. Als er 1534 nach Rom zurückkehrte, ließ Michelangelo die unvollendeten Figuren in seiner Florentiner Werkstatt zurück. Für die spätere Planung des Grabmals spielten sie seitdem keine Rolle mehr. Das gilt auch für die ebenfalls unvollendet gebliebene Gruppe Der Sieg, die Vasari zufolge für das Juliusgrabmal bestimmt war, worauf auch die Eichenblätter im Haar des Jünglings hindeuten. Es handelt sich um die einzige Gruppe der ehemals für die Nischen des Untergeschosses bestimmten Viktorien, die in der Gestalt eines nackten Jünglings zur Ausführung gelangt ist. Daraus ergibt sich, dass ihrer Ausführung eine Konzeptänderung zugrunde lag, zu der sich der Künstler erst nach dem Vertrag von 1513 entschlossen haben kann, der noch weibliche Figuren vorsah. Die stilistische Nähe zu den Statuen der Medici-Kapelle spricht für eine Entstehung zwischen 1520 und 1525. In einer neuen Vereinbarung vom 29. April 1532 verpflichtete sich der Künstler dazu, sechs noch unvollendete Figuren — über ihre Identität schweigt das Dokument — in den nächsten drei Jahren eigenhändig zu vollenden, während alles andere (Architektur und Ornamente) durch Gehilfen ausgeführt werden sollte. Für diese massive Reduktion scheint er ein neues Konzept vorgelegt zu haben, das wahrscheinlich im Untergeschoss den Moses und die beiden Sklaven des Louvre, im Obergeschoss Maria mit dem Kind sowie einen Propheten und eine Sibylle vorsah. In den folgenden Jahren war Michelangelo jedoch so sehr von der Arbeit am Jüngsten Gericht und der Cappella Paolina absorbiert >L.XII.7, XII.8, dass er auch diese Frist nicht einhielt. Protegiert durch Papst Paul III. Farnese, der mit Michelangelo seine eigenen Projekte verwirklichen wollte >L.XII.6, XII.7, kam es nun zu einer nochmaligen Reduktion des Auftragsvolumens, dessen Bedingungen in zähen Verhandlungen festgelegt wurden. Der neue Vertrag vom 24. Oktober 1542 befreite Michelangelo weitgehend von weiteren bildhauerischen Arbeiten, ersetzte aber zugleich die beiden fast vollendeten Sklaven des Louvre, die zu Seiten des nun im Untergeschoss platzierten Moses vorgesehen waren, durch Lea und Rahel als Allegorien der vita activa und der vita contemplativa.

Diese unter Mitarbeit von Raffaello da Montelupo geschaffenen Nischenfiguren sowie die vollständig von letzterem ausgeführten beiden Sitzfiguren eines Propheten und einer Sibylle im Obergeschoss, welche die von Michelangelo nur im Gesicht retuschierte Liegefigur des Papstes flankieren, und das Standbild der Madonna in der mittleren Nische sind alles, was von dem ursprünglich so aufwändigen Projekt des Grabmals übrig geblieben ist. Nur die monumentale und in ihrer skulpturalen Virtuosität überragende Figur des Moses lässt noch die künstlerischen Ideale und Ambitionen ahnen, die ursprünglich mit diesem Auftrag verbunden waren. Das Grabmal wurde aus einem von antiken Vorbildern inspirierten Freigrab zum fassadenartigen Wandgrabmal, das 1545 nach Michelangelos Anweisungen vor der Stirnwand des rechten Querschiffs von San Pietro in Vincoli aufgestellt wurde, ohne dass die sterblichen Überreste des Papstes dorthin überführt wurden. Im Prozess der Transformation des Projekts spiegeln sich – abgesehen von allen künstlerischen und individuellen Aspekten – tiefgreifende spirituelle Veränderungen. Der ursprüngliche pagane und imperiale Duktus wich einer christlichen Programmatik. Für die Personifikationen der Lea als vita activa und der Rahel als vita contemplativa ließ sich Michelangelo durch Dante anregen. Es ist kaum daran zu zweifeln, dass er auch für die anderen, durch die Zeitläufte bedingten Abwandlungen des ursprünglichen Konzepts und Bildprogramms verantwortlich war. Michelangelo hat sich im Verlauf der vier Jahrzehnte dauernden Geschichte des Grabmals künstlerisch immer mehr von dem Projekt distanziert, an das ihn die alten Verträge banden.

 

zu 2. Die Ausmalung des Gewölbes der Sixtinischen Kapelle