Florenz 1500-1508: Leonardo, Michelangelo und Raffael

Gegenstand dieser Lektion sind einige Werke der drei Künstler, die als die wichtigsten Repräsentanten der sogenannten Hochrenaissance gelten. Dieses für die weitere Kunstentwicklung so wirkmächtige Dreigestirn war, ist und bleibt eines der großen Forschungsgebiete, auf das jede Generation der Kunstgeschichte neu und anders blickt. Die Aufarbeitung und Sichtung der Quellen, der Literatur und des künstlerischen Corpus gehen mit einem kontinuierlichen Perspektivenwechsel einher. Diese Veränderungen spiegeln sich in der Rezeptionsgeschichte wider, die jedoch auch von Stereotypen und Stilisierungen geprägt ist, die sich teilweise bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Das gilt vor allem für Michelangelo und Raffael, die schon von den Zeitgenossen als Gegenpole interpretiert wurden. Ihre künstlerischen und charakterlichen Gegensätze und die daraus resultierende Konfrontation traten im Ambiente des päpstlichen Hofes deutlich hervor und fanden auch Niederschlag in den Zeitzeugnissen. Inwieweit das Kalkül auf die positiven Wirkungen der Rivalität für die Berufung beider Künstler durch Papst Julius‘ II. nach Rom eine Rolle gespielt hat, ist eine kaum zu beantwortende Frage. Schon Brunelleschis und Ghibertis Konkurrenz >L.III.5 hatte gezeigt, wie positiv sich eine solche Konstellation auf das innovative Potential auswirkte. Die Situation in Florenz, wo nach dem Vorbild der ökonomischen Konkurrenz schon früh die belebenden Effekte der künstlerischen Rivalität vor Augen standen, lieferte einen Maßstab für die künftige Entwicklung gelten. Das durch den offenen Wettbewerb belebte Interesse der Öffentlichkeit an der Kunst fokussierte sich im Rom des 16. Jahrhunderts jedoch stärker als zuvor auf die maniera, d.h. auf individuelle künstlerische Eigenarten >L.X.3.

Die beiden gebürtigen Florentiner Leonardo und Michelangelo trafen bei der Ausmalung des großen Ratssaals (Sala del Maggior Consiglio) im Stadtpalast (Palazzo della Signoria) in direkter Konkurrenz aufeinander. Diese Konstellation erscheint aus der Distanz der Jahrhunderte als ein „Kampf der Giganten“, bei dem nach heutigem Urteil die stärkere Wirkung von dem zwanzig Jahre jüngeren Michelangelo ausging . Nachdem Leonardo 18 Jahre in Mailand verbracht hatte, ließ er sich nach kurzen Aufenthalten in Mantua und Venedig im April 1500 wieder in Florenz nieder. In den sechs Jahren, die er hier mit Unterbrechungen lebte und arbeitete, entstanden Werke, von denen weitreichende Wirkungen ausgehen sollten. Diese waren 1501 ein Karton für eine hl. Anna Selbdritt, das Porträt der Mona Lisa (1503–1505), die unvollendet gebliebene Anghiari-Schlacht (1503–1506) und die Leda (1504–1508). Michelangelo blieb trotz seiner häufigen Romaufenthalte (1496–1501, 1505–1506, 1508–1512) bis zu seiner endgültigen Übersiedlung nach Rom (1534) eng mit seiner Heimatstadt Florenz verbunden. Raffael, der 1504 nach Florenz kam, verweilte, abgesehen von kurzen Unterbrechungen für Reisen nach Perugia, etwa bis zur Jahresmitte 1508 in der Arnostadt. In einer so überschaubaren Stadt wie Florenz konnten daher persönliche Begegnungen kaum ausbleiben. Den zeitgenössischen Anekdoten zufolge war das Verhältnis zwischen Michelangelo und Leonardo reichlich gespannt, während der gerade zwanzigjährige Raffael als Nichtflorentiner davon profitiert haben dürfte, dass er noch nicht im Rampenlicht stand und sich unbeobachtet mit den Werken der beiden Meister auseinandersetzen konnte, wie vor allem seine frühen Zeichnungen belegen. Nach der Vertreibung der Medici (1494) und dem Ende Savonarolas (23. Mai 1498) wurde das politische und künstlerische Klima in Florenz durch neue Akteure geprägt, von denen die Signoria unter dem im Herbst 1502 zum gonfaloniere perpetuo ernannten Piero Soderini die wichtigste Institution war. Bald nach Beginn des Jahrhunderts kam es seitens der Domopera zu einem Auftrag, der neue Maßstäbe setzte.

zu 1. Michelangelos erster großer Auftritt: Der „Gigant“ des David

Hl. Anna Selbdritt

Die Darstellung vereint Anna als Mutter Mariae mit ihrer Tochter und dem Jesuskind zu einer Figurengruppe, deren theologische Aussage auf die erst im 19. Jahrhundert zum Dogma erhobene Verehrung der Immaculata Conceptio bezieht, wonach — durch Annas Gegenwart bezeugt — Maria jungfräulich empfangen wurde. Aus der anfänglich hieratisch-strengen Axialität, wie sie um 1420 Masaccio und Masolino bei der Anordnung der drei Figuren wählten, entwickelt sich in Florenz, wo die hl. Anna als Stadtpatronin verehrt wurde, um 1500 in Malerei und Skulptur eine vielgestaltige Ikonographie, die narrative Handlungsmotive einführt (Leonardo da Vinci) und das Thema der drei Lebensalterstufen (Francesco da Sangallo) visualisiert.

Literatur: Hannelore Sachs, Ernst Badstübner, Helga Naumann: Erklärendes Wörterbuch der christlichen Kunst, Hanau o. J. S. 33.