Leonardo da Vinci in Mailand

Filarete war einer der Ideengeber für Leonardos Beschäftigung mit dem Zentralbau während seiner Mailänder Jahre, als die Vollendung des dortigen Doms akut war, für den bis ca. 1487 eine Vierungskuppel nach dem Vorbild von Florenz erwogen wurde. Die meisten von Leonardos architektonischen Studien sind im Codex B der Bibliothek des Institut de France in Paris enthaltenund sollten vermutlich einen architektonischen Traktat illustrieren, dessen Abfassung Leonardo in diesen Jahren plante. Diesen Zeichnungen kommt im Hinblick auf ihre Darstellungsweise und auf ihr Typenrepertoire eine große Bedeutung zu. Die in ihnen durchgespielten Varianten des sakralen Zentralbaues, die teilweise auch an ältere Mailänder Bauwerke erinnern, gehen von einfachen Grundtypen aus, die zu immer komplexeren Lösungen erweitert werden. Das Grundmodell dieser Bauten wird durch eine große zentrale Kuppel geprägt, der sich auf drei Seiten halbe Kuppeln (Konchen) unterordnen und anlagern. Auch die als Trikonchos ausgebildete Choranlage des Florentiner Doms >L.IV.2 wirkte hier nach. Um den Baukörper und seine räumliche Erscheinung zu veranschaulichen, hat Leonardo ein neues zeichnerisches Verfahren entwickelt. Neben dem traditionellen Verfahren von Grundriss und Querschnitt tritt eine perspektivische Darstellung aus der Vogelschau, wodurch die plastische Qualität des Bauwerks anschaulich wird. Diese „Visualisierung architektonischer Ideen“ ist mit dem Vorgehen eines Bildhauers vergleichbar, „der die Räume aus einer blockhaften Materie erschafft“. Leonardo erfand eine neue Methode, architektonische Konstruktionen und ihre Raumwirkung im Medium der Zeichnung so darzustellen, dass sie ein gebautes Modell ersetzen konnten. Mit diesen Projektionen erreichte die Architekturzeichnung erstmalig den Status einer allgemein verständlichen Kommunikationsform, was eine wichtige Voraussetzung für die Planungsgeschichte der Peterskirche werden sollte, die durch das Medium der Zeichnung geprägt wurde. Es gilt als sicher, dass Leonardos Zeichnungen für Zentralbauten auch Bramante beeinflußt haben, der in den gleichen Jahren in Mailand tätig war. Besonders in Leonardos Vorschlag für die Kuppel des Mailänder Doms, dem kein konkreter Auftrag zugrunde lag, sind Motive vorweggenommen, die Bramantes Entwurf für den Neubau von St. Peter kennzeichnen.

1482 unterbreitete Leonardo da Vinci, der sich bereits in Mailand aufhielt, Ludovico il Moro das Angebot, seine Talente in dessen Dienste zu stellen. Er bot ihm u.a. an, die Ausführung des Reitermonuments für Francesco Sforza zu übernehmen, das seit 1473 in Planung war und das vor dem Castello Sforzesco aufgestellt werden sollte. Die politische Absicht, die sich mit diesem Monument verband, war die Legitimation der Familie Sforza, die sich 1450 als neues Herrschergeschlecht in der Nachfolge der Visconti etabliert hatte. In einem Brief an den Herzog stellt Leonardo geschickt die politischen Vorteile dar, die eine Realisierung des Projekts mit sich bringen würde: „Das Bronzepferd könnte erneut in Angriff genommen werden, das den unsterblichen Ruhm und die ewige Ehre Eures Vaters sowie das Ansehen der berühmten Dynastie Sforza sichern soll“. Sein Angebot fand Gehör, auch wenn er nicht mit dem von ihm angestrebten Status eines Hofkünstlers ausgezeichnet wurde. Während der zehn Jahre, die Leonardo am Sforza-Monument gearbeitet hat, geriet das Denkmal immer kolossaler, bis es schließlich dreifache Lebensgröße erreicht hatte. Das 1493 vollendete Tonmodell hatte eine Höhe von 7,20 m und übertraf damit sowohl Donatellos wie Verrocchios Reitermonumente >L.XVI.2, an denen er sich als Schüler Verrocchios wohl auch messen wollte. Aus der ursprünglichen Idee eines über einen Besiegten hinweg stürmenden Reiters entwickelte er nach 1489 eine ruhige und gemessene Gangart für das Pferd, dessen Vorbild die antike Reiterstatue des sogenannten Regisole in Pavia war.

Kaiser Maximilian I., der 1493 anlässlich seiner geplanten Hochzeit mit Bianca Maria Sforza, einer Tochter des Galeazzo Maria Sforza, in Mailand weilte, hat das Modell gesehen und sich davon für eigene Denkmalsideen anregen lassen, die jedoch nicht über Entwürfe hinaus gediehen. Die Bronze für das Sforza-Monument war bereits vorrätig, als der Überfall König Karls VIII. von Frankreich im Jahr 1494 dazu zwang, sie für Kanonenkugeln zu verwenden. Das kolossale Tonmodell wurde schließlich Opfer der französischen Eroberer, die es als Schießscheibe benutzten und so allmählich zertrümmerten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Leonardo Mailand bereits verlassen.

Das einzige größere Werk, das Leonardo während seiner Mailänder Zeit vollendet hatte, war das Abendmahl im Refektorium von S. Maria delle Grazie. Wie das Sforza-Monument knüpfte auch dieses Gemälde an die Florentiner Tradition an und reflektierte sie, um sie zu übertrumpfen. Obwohl die Evangelienberichte über das Abendmahl die Aufregung unter den Jüngern schildern, die nach Jesu’ Ankündigung des Verrats ausbricht, sind die Gemütserregung und der daraus entstehende Tumult in den früheren Florentiner Abendmahlsdarstellungen nicht thematisiert worden. Das gilt selbst für Andrea del Castagnos expressives Wandbild, das den Lieblingsjünger Johannes an der Brust des Herrn ruhend zeigt und den auf der anderen Seite des Tisches sitzenden Judas so exponiert, dass er impulsiv als der Verräter identifiziert wird. Leonardo hat die bei aller äußeren Naturnähe in erster Linie symbolisch zu lesende Szene dagegen als eine Historia aufgefasst, die ihren Höhepunkt in der Entlarvung des Judas als Verräter findet.

Das Johannes-Evangelium berichtet, Christus habe gewusst, wer ihn verraten werde und habe dies mit der Überreichung des Brotes an Judas deutlich gemacht. Leonardo wählte jedoch den Augenblick, als der von allen Jüngern isolierte Christus seine Arme vor dem Kelch und dem Brot ausbreitet. Der durch seine Worte ausgelöste Aufruhr, der sich in der Art einer Kettenreaktion auf den Gesichtern und in den Handlungen der Jünger spiegelt, spiegelt sich nicht in seinen Gesten und in seinem Ausdruck. In der Isolierung Christi von den Jüngern wird die tiefere Sinnschicht der Darstellung anschaulich: es geht hier um die Einsetzung der Eucharistie und damit um die Doppelnatur Christi, auf die sich seine Worte zur Einsetzung des Abendmahlsritus beziehen. Arasse hat diese Dimension der Bildaussage wie folgt resümiert: „Leonardo malte das Unsichtbare bei seiner Ankunft im Sichtbaren und machte in seinem Gemälde die Erschütterung deutlich, die diese Ankunft auslöste.“ Das Zusammenspiel zwischen den Bewegungen des Körpers und den Empfindungen der Seele war eines der zentralen Themen in Leonardos Schriften. Die unterschiedlichen Charaktere, die sich in den heftig miteinander debattierenden Jüngern zeigen, hat Leonardo in seinem „Traktat von der Malerei“ beschrieben. Zur Steigerung der Plastizität der Malerei wandte Leonardo eine Mischung aus Ölfarben und Tempera (tecnica mista) an, die schon bald nach der Fertigstellung des Wandbildes zu Schäden und Verlusten führte. In umgekehrtem Verhältnis zu seiner materiellen Fragilität stand die Wirkung, die von dem Bild ausging und die durch Kopien und Stiche schnell einen Bekanntheitsgrad erreichte, der weit über den Ort und die Epoche andauerte. Leonardos Wirken in Mailand beschließt die Epoche der Frührenaissance, in der es vor allem die von Florenz ausgehenden Impulse waren, die auch der Kunst der kleineren Zentren ihren Stempel aufprägten.

Zu Lektion VII