Kunstrezeption im 15. Jahrhundert

Wie die Malerei von den Zeitgenossen wahrgenommen und beurteilt wurde, offenbart eine Quelle, die zu den aufschlussreichsten Texten des 15. Jahrhunderts über die Wirkung und Wahrnehmung von Kunst gehören. Es handelt sich um die kurzen Bemerkungen über die Künstler von Florenz, die der Humanist Cristoforo Landino (1424–1492) seinem 1481 vollendeten Dante-Kommentar vorangesetzt hat. Michael Baxandall hat die Bedeutung dieser Quelle erstmalig in einem mittlerweile als Klassiker geltenden Buch gewürdigt, das einen neuen Blick auf die Kunst des 15. Jahrhunderts ermöglicht hat, indem es anhand von Zeugnissen und Textquellen die Wahrnehmung von Kunst durch die Zeitgenossen zu erkunden suchte. Die Kategorien, nach denen der mit Alberti befreundete Landino die Maler unterscheidet, geben eine konkrete Vorstellung davon, nach welchen formalen Kriterien die Werke der Malerei beurteilt wurden. Die Begriffe und Adjektive, die Landino zur Charakterisierung der Maler verwendet, sind von Baxandall mit den Namen derjenigen Maler assoziiert worden, denen sie zugeschrieben wurden. Daraus ergibt sich eine aufschlussreiche Skala der Begriffe und der Beurteilungskategorien für die Florentiner Malerei des 15. Jahrhunderts. Baxandall vertritt die These, dass in der differenzierten Florentiner Gesellschaft des 15. Jahrhunderts die Produktion und die Betrachtung von Kunst einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert hatten und dass das Gespräch über die Kunst exakt mit den Begriffen operierte, die Landino verwendet hat. Die verbale Verständigung über Kunst und die visuelle Differenzierung von einzelnen Kunstwerken waren – so Baxandall – in der Florentiner Oberschicht normal. Die Tatsache, dass in Landinos Auswahl ausgerechnet jene Maler fehlen, die 1481 zu den erfolgreichsten jüngeren Maler gehörten, nämlich Paolo Uccello, Antonio Pollaiuolo, Andrea Verrocchio, Domenico Ghirlandaio undSandro Botticelli, ist wohl mit Landinos Generationszugehörigkeit zu erklären.

Der überschaubare Aktionsraum, in dem sich das Florentiner Kunstschaffen abspielte, begünstigte nicht nur die Herausbildung des Urteilsvermögens bei den Betrachtern und Klienten, sondern auch bei den Künstlern selbst. Die Konkurrenz innerhalb der Künstlerschaft trug erheblich zur Profilierung, aber auch zur Polarisierung bei. Der Prozess der Professionalisierung und der Differenzierung, der sich in Florenz mit einem solchen rasanten Tempo und mit so hochrangigen Protagonisten abspielte, gilt aufgrund der sozialen, ökonomischen und künstlerischen Konstellation als paradigmatisch für die Modernisierung der Lebensverhältnisse in einer hoch entwickelten und hoch spezialisierten Gesellschaft, die jedoch bei aller Liebe zum profanen Aufwand religiös geprägt war. Aufgabe des Künstlers war es, die heiligen Geschichten zu visualisieren und Gegenstände zu schaffen, die kultische und liturgische Bedürfnisse und Funktionen erfüllten. Das vorrangige Ziel der Bilder in Kirchen, Kapellen und Oratorien war die Jenseitsfürsorge. Alle frommen und karitativen Stiftungen verfolgten das Ziel, durch gute und gottgefällige Werke die optimalen Voraussetzungen für die Auferstehung am „Jüngsten Tag” zu schaffen.

Wie die Rezipienten an der Visualisierung mitarbeiteten, hat Baxandall an einem Lehrbuch „Zardino de oration” gezeigt, das 1454 für junge Mädchen geschrieben wurde. Hier wird die Leserin dazu aufgefordert, sich bei der Lektüre der Passionsgeschichte nicht nur die Bilder vorzustellen, sondern sie mit bestimmten Orten und Schauplätzen zu verknüpfen, um sich meditativ in die Passion Christi zu versenken. Es ist nahe liegend, dass solche inneren Bilder von den realen Bildern geprägt wurden, die diese Themen darstellten. Kunst hatte also neben der öffentlichen auch eine formende und erziehende Funktion. Die Vermittlung zwischen Religion und Bild wurde durch Predigten bewirkt, die großen Zulauf fanden . Die christlichen Themen wurden in diesen häufig unter freiem Himmel und in der Volkssprache gehaltenen Predigten – berühmt waren die des 1453 heilig gesprochenen Bernardino von Siena – interpretiert und zwar im Hinblick auf die Gefühlsregungen der heiligen Personen, die den Zuhörern mit Hilfe von Kategorien nahe gebracht wurden und die mit bestimmten Bildern verknüpft werden konnten.

zu 3. Die Florentiner Werkstätten und ihr Repertoire