6. Neuere Positionen der Renaissanceforschung

Die sichere Basis der Begriffsbildung, um welche die Kunstgeschichte von Kristeller noch beneidet wurde und die er in Panofskys Gebäude so eindringlich und überzeugend realisiert sah, ging nach 1945 verloren. Welche Wege hat die Kunstgeschichte des späteren 20. und des 21. Jahrhunderts beschritten, um dem immer komplexer erscheinenden Phänomen Renaissance gerecht zu werden? Eine Folge der Verunsicherung durch die Zäsur der NS-Zeit war in Deutschland der Versuch, die formal-stilistische Methode mit dem säkularen Ordnungsprinzip zu verbinden und so von jedweder national ausgerichteten Kunstgeschichtsschreibung Abstand zu nehmen. So hat die „Propyläen Kunstgeschichte“ dem hier zur Debatte stehenden Zeitraum zwei Bände gewidmet: „Spätes Mittelalter und beginnende Neuzeit“ von Jan Białostocki und „Die Kunst des 16. Jahrhunderts“ von Georg Kauffmann. Beide Bände sind gesamteuropäisch angelegt, was der Grund dafür gewesen sein dürfte, dass auf den Begriff Renaissance im Titel verzichtet wurde. Białostocki begründete diese Wahl mit dem Zweifel daran, ob Begriffe wie Mittelalter, Gotik und Renaissance dazu beitragen könnten, „ein überzeugendes Bild vom 15. Jahrhundert zu entwerfen“. Kaufmann gab für das 16. Jahrhundert die folgende Definition: „Die Kunstgeschichte des 16. Jahrhunderts gliedert sich in Regionalstile, die jedoch mit der Zeit ihre besondere Eigenart verlieren und unter den Einfluß der italienischen Hochrenaissance geraten, bis der Manierismus, gleichfalls von Italien ausgehend, ganze Europa eint.“ Um 1970, als diese Neuauflage der „Propyläen Kunstgeschichte“ konzipiert wurde, sah man es als „Notwendigkeit“ an, „loszukommen von den alten Begriffen“. Als Alternative zu den Stilbegriffen, die als veraltet empfunden wurden, galten die kunstgeographische, historische, die kunstsoziologische und die funktionale Betrachtungsweise, die in den folgenden 30 Jahren das Bild der Epoche zweifellos bereichert, den Blick geschärft und die Kenntnis differenziert hat. Gerade wegen der überaus reichen Forschungsliteratur zu Einzelaspekten, Monografien und Überblickswerken besteht aber weiterhin das Desiderat nach übergreifenden Ordnungskriterien und neuen methodischen Ansätzen.

Dies hat dazu geführt, dass die Kunstgeschichte bis heute nicht auf die vertrauten Epochenbegriffe verzichtet. In jüngeren Publikationen lässt sich sogar die Tendenz feststellen, den Begriff Renaissance zu rehabilitieren, wenn auch mit einer veränderten Bedeutung, wie es die „Einführung in die Architektur der Renaissance und des Barock“ in dem e-Learning-Modul „Schule des Sehens" vorschlug: „Fragwürdig erscheint das Konzept der Stilgeschichte aber dann, wenn die Stilentwicklung als eine selbständig wirksame, überpersönliche Macht dargestellt wird, als ein gleichsam im Verborgenen wirkendes Subjekt, dem die Baukünstler zu ihrer Zeit jeweils hätten "gerecht werden" müssen. Und auch als Ordnungskriterium ist die Stilgeschichte nicht unproblematisch, weil sich die Entwicklung der Baukunst in Renaissance und Barock keineswegs als einfacher, geradliniger Strang darstellt" (Ulrich Fürst). Begünstigt durch die von Warburg und Panofsky bereit gestellten Instrumentarien der ikonologischen und motivischen Verknüpfung, der formalgenetischen und motivischen Reihen, stellen die Kunstwerke und Bilder heute oft nur noch die visuellen Belege für historische, intellektuelle, soziale oder religiöse Sachverhalte zur Verfügung. Die Kompetenz der Kunstgeschichte, von der der Begriff Renaissance ursprünglich ausging, wird heute gelegentlich sogar in Frage gestellt. Georges Didi-Huberman etwa wirft der Kunstgeschichte vor, einer „szientistischen Illusion“ aufzusitzen.

Mehr als andere wissenschaftliche Disziplinen, die sich mit der „frühen Neuzeit“ beschäftigen, wie die Epoche heute bezeichnet wird, muss sich die Kunstgeschichte aufgrund ihrer historisch begründeten Kompetenz für das künstlerische Erbe der Renaissance der Selbstkritik und neuen methodischen Herausforderungen stellen. Die Kriterien und Prinzipien, aus denen Vasari sein System konstruiert hatte, und von denen sich die Kunstgeschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein leiten ließ, haben keine Gültigkeit mehr. Das betrifft nicht nur die chronologischen und mentalen Abgrenzungen, sondern auch den Stellenwert, den die Künstler und die Werke der italienischen Renaissance seit Vasari im kunsthistorischen Kanon beansprucht hatten. War die Renaissance als Epoche und Phänomen für die ältere Kunstgeschichte „Ausgangsfall und Testfall für die wichtigsten neuen Methoden", so richtet sich das Interesse der heutigen Forschung eher auf die Frage nach den Bedingungen und Gründen, auf denen der Absolutheitsanspruch für die Kunstschöpfungen der italienischen Renaissance beruhte. Parallel dazu wird die Vielfalt der Konzepte und Interpretationen von „Renaissance” thematisiert. Der Begriff und seine lange Geschichte sind selbst zu einem Thema der Forschung geworden. Deutlich wird dies am Titel eines jüngst erschienenen Katalogbuchs, das dieses weite Spektrum von Anwendungen des Begriffs Renaissance exemplarisch aufgearbeitet hat: „Was war Renaissance?”. Bildwissenschaft, Kulturwissenschaft und „historische Anthropologie“ (Burke) berufen sich methodisch auf Aby Warburg, dessen Forschungen zur Malerei des 15. Jahrhunderts in Florenz und Ferrara den interdisziplinär ausgerichteten Forschungen zur frühen Neuzeit seit den 1970er Jahren neue und fruchtbare Impulse gegeben haben. Schon 1912 sprach Warburg von der Epoche der Renaissance als einem "Zeitalter internationaler Bildwanderung" und griff damit weit über den methodischen Horizont seiner Zeitgenossen hinaus. Peter Burke hat die sukzessive europäische Ausbreitung der Renaissance akzentuiert und sieht sie als eine von Italien ausgehende Bewegung an, die das intellektuelle und kulturelle Gesicht Europas grundlegend verändert und geprägt hat.

 

zu Lektion II