Rezension

Kyllikki Zacharias: (Hg.) Surreale Sachlichkeit. Werke der 1920er- und 1930er-Jahre aus der Nationalgalerie, Dresden: Michael Sandstein Verlag 2016, 223 S., ISBN 978-3-95498-255-4, 38.00 EUR
Buchcover von Surreale Sachlichkeit
rezensiert von Stefan H. Fischer, Salzburg

Bereits die einleitende Frage auf der Buchrückseite "'Surreale Sachlichkeit' gibt es nicht - oder doch?" lädt den Leser zum Nachdenken ein. Im Zentrum der Betrachtung des Ausstellungskataloges steht der mögliche Zusammenhang von Surrealismus und Neuer Sachlichkeit, wobei die Betrachtungsrichtung vom Surrealismus auf die Neue Sachlichkeit erfolgt, wie im Weiteren erörtert wird.

Die Ausstellung "Surreale Sachlichkeit" ist dem Umstand gedankt, dass die Neue Nationalgalerie über mehrere Jahre saniert wird, und somit bedeutende Werke für andere Ausstellungen zur Verfügung stehen, wie etwa für dieses Projekt der Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg.

Der eröffnende Beitrag der Herausgeberin Kyllikki Zacharias beschreibt das Vorhaben, in dem sie Intention und Motivation sowohl des Surrealismus, als auch der nahezu gleichzeitig entstehenden Neuen Sachlichkeit auf die gleiche Ausgangslage zurückführt: Beiden Strömungen, so die Autorin, geht als Vorläufer die pittura metafisica voraus. Giorgio de Chiricos "Der Große Metaphysiker" verkörpert demzufolge exemplarisch den Menschen in einer unkontrollierbar gewordenen Dingwelt, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mehr und mehr offenbar geworden sei. Aus dieser gemeinsamen historischen Situation, so Zacharias, entwickelten sich Surrealismus und Neue Sachlichkeit gleichermaßen, wie zwei Äste aus einem Stamm.

Die Kernthese der Ausstellung formuliert Zacharias dabei wie folgt: "Der Rekurs auf die sachlich-dingliche Alltagswelt funktioniert bei der Neuen Sachlichkeit wie bei den Surrealisten aus ähnlichen Gründen; lediglich ihr Zugriff auf die dingliche Welt erfolgt aus entgegengesetzten Richtungen" (17). Während die Surrealisten versuchten, die Dinge selbst "zum Sprechen zu bringen" (17), würden die neusachlichen Maler geradezu das Gegenteil anstreben, nämlich das Unbewusste, Metaphysische der Dinge zum Schweigen zu bringen, um eine aus den Fugen geratene Welt wieder zu beruhigen. Dieses "Ideal einer neutralen Gemeinschaft der Dinge" sei jedoch Verdrängung, und nur möglich unter Zuhilfenahme "unerbittlicher Sorgfalt des Handwerks" (18). Die so isolierten Dinge würden allerdings dennoch in diesem Vakuum auf geheimnisvolle Weise beginnen zu interagieren. Damit lässt sich der alternative Begriff der Neuen Sachlichkeit, "Magischer Realismus" veranschaulichen. Der Surrealismus hingegen versucht diese Dinge aus ihren Zusammenhang zu reißen und ihnen eine neue, andere Bedeutung zu geben. Als Beispiele für ein so aus dem Sachzwang der industriellen Dingwelt befreites und in das Überreale des Surrealismus überführtes Kunstwerk nennt die Autorin Duchamps Ready-made "Fahrrad-Rad" (1913) und Max Ernsts "Capricorne" (1948), das aus Milchflaschen, Autofedern und Eierkartons entstand. Trotz dieser gegensätzlichen Ansätze, so Zacharias, ergeben sich Berührungspunkte zwischen beiden Kunstrichtungen.

Diesem, die "Versuchsanordnung" und zentrale Fragestellung erörternden Beitrag, folgt der Aufsatz des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Hartmut Böhme. In seinem Beitrag "Das Reale ist das Surreale - und umgekehrt" betreibt er eine Analyse des Wirklichen und des Surrealen, und sucht nach Situationen, in denen sich beide Welten "begegnen, interagieren oder gar fusionieren" (24). Der Abriss Böhmes beginnt mit der Fotografie und bleibt dabei nicht nur bei den bekannten Protagonisten wie Albert Renger-Patzsch, Karl Blossfeldt oder August Sander stehen. Er bedient sich zeitlicher Rückgriffe wie etwa auf Francisco de Goya oder Charles Meryon, auch nennt er weniger bekannte Künstler wie den ungarisch-französischen Fotografen Brassaï. Er folgt dabei dem Selbstverständnis der Sammlung Scharf-Gerstenberg, nach dem Surrealismus nicht als ein epochales, sondern als ein grundsätzliches Phänomen der Kunst zu verstehen sei. In Teilen schließt er an sein Buch "Fetischismus und Kultur" an, wenn er die unendlich mannigfaltige Dingwelt, deren Bedeutung und Funktion, aber auch deren "Zerschneiden, Zerlegen, Zerstören" beschreibt und analysiert (35). [1] Diese, durch die Industrie in schier endloser Anzahl erzeugten, verwendeten und letztlich weggeworfenen Dinge seien sowohl Thema des Surrealismus, als auch der Neuen Sachlichkeit. Die eindeutige Zuordnung ist dabei, wie Böhme herausarbeitet, oft fragwürdig. Der Autor bezieht sich in seinen Ausführungen auf die im Katalogteil abgebildeten Kunstwerke bzw. Werkgruppen, wodurch der in Bereiche unterteilte Katalogteil wieder als einheitliches Kompendium erscheint. Der sehr lohnende, aber enorm verdichtete Text stellt an den Leser hohe Ansprüche. Die Fülle der Namen von Künstlern und Schriftstellern, deren Werke und die enorme Anzahl von Beispielen setzen beim Leser einige Vorkenntnisse voraus.

Die weiteren Beiträge des Kataloges widmen sich Teilaspekten des Themas, wie Michael Lailach, der Franz Rohs Buch "Nach-Expressionismus" untersucht, das einzige größere, zeitgenössische Werk, das sich mit der Neuen Sachlichkeit in der Kunst beschäftigt. [2] Die bei Roh aufgeführten gegenübergestellten Begriffspaare finden sich nahezu überall dort, wo die Frage nach einer Theorie der Neuen Sachlichkeit gestellt wird, was eine Untersuchung auch im Kontext der surrealen Sachlichkeit legitimiert. Der Autor zeigt hier, dass auch Roh den Zusammenhang der neuen Kunstströmung mit der pittura metafisica erkannt hatte.

Diethelm Kaiser analysiert in seinem Text die "Fotografie zwischen Neuer Sachlichkeit und Surrealismus" (56). Er arbeitet die verschiedenen Positionen zur Fotografie und dem Neuen Sehen heraus. Dabei sieht er die Anerkennung der Fotografie als eigenständige Form der Kunst als grundlegende Voraussetzung. Spannend liest sich die Analyse der beiden Pole: Während die Protagonisten des Neuen Sehens die Abbildung der Wirklichkeit als stichhaltiges Argument für sich verwenden können, mussten auf Seite des Surrealismus vollkommen andere Argumente ins Feld geführt werden, um Fotografie als Medium "ihrer" Kunst zu legitimieren.

Michael Niehaus widmet sich der Frage, ob und inwieweit sich Surreale Sachlichkeit auch in der Literatur manifestiert haben. Auf der Suche nach einer surrealen Sachlichkeit in der Literatur stößt Niehaus auf Franz Kafka, zunächst auf dessen Werk "Die Verwandlung", im Weiteren auf das "Blumfeld-Fragment" aus dem Jahr 1915, in dem Kafka in sachlich-nüchterner Weise eine surreale Geschichte von zwei springenden Celluloid-Kugeln in der Wohnung des Junggesellen Blumfeld erzählt. In der Literatur erweist sich demnach die Schnittmenge noch überschaubarer als in der bildenden Kunst.

Christina Thomson beschäftigt sich nicht mit einem Thema "surrealer Sachlichkeit", sondern mit dem ausschließlich in der Neuen Sachlichkeit auftretendem Phänomen der unzähligen Kakteen- und Sukkulentendarstellungen, die sich aber teilweise sehr surreal präsentieren. Aufschlussreich ist der Verweis der Autorin auf die Ambivalenz dieser vermeintlichen Idylle: Die bürgerliche Kakteenzucht war auch Freizeitvertreib jener Spießer, gegen die sich die Veristen der Neuen Sachlichkeit so vehement gewendet haben.

Der abschließende Beitrag von Maria Obenaus widmet sich der Sammlungsgeschichte der Nationalgalerie. Während Zacharias eingangs das Museum und Aspekte der Sammlung Scharf-Gerstenberg umreißt, geht Obenaus auf die Geschichte der neusachlichen Werke der Nationalgalerie ein, die im Bildteil des Katalogs gezeigt werden. So wurde auch den beiden Gruppen der Kunstwerke in den Beiträgen ein umschließender Rahmen gewidmet.

An manchen Stellen erschließt sich die teleologische Ausrichtung des Gedankenspiels "Surreale Sachlichkeit" nicht auf Anhieb. Die in den Beiträgen aufgezeigten Schnittmengen und Berührungspunkte beider Kunstrichtungen sind anschaulich und meist überzeugend. Die Idee einer "Surrealen Sachlichkeit" darf und muss als impulsgebendes Experiment für weitere Forschungen aufgefasst werden.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006.

[2] Franz Roh: Nach-Expressionismus. Magischer Realismus; Probleme der neuesten europäischen Malerei, Leipzig 1925.


Stefan H. Fischer

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Empfohlene Zitierweise:

Stefan H. Fischer: Rezension von: Kyllikki Zacharias: (Hg.) Surreale Sachlichkeit. Werke der 1920er- und 1930er-Jahre aus der Nationalgalerie, Dresden: Michael Sandstein Verlag 2016
in: KUNSTFORM 18 (2017), Nr. 4,

Rezension von:

Stefan H. Fischer
Salzburg

Redaktionelle Betreuung:

Oliver Sukrow