Rezension

Barbara Martin: Zwischen Verklärung und Verführung. Die Frau in der französischen Plakatkunst des späten 19. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2016, 446 S., ISBN 978-3-8376-3077-0, 39.99 EUR
Buchcover von Zwischen Verklärung und Verführung
rezensiert von Helen Barr, Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.

"Ein effektvolles Plakat an der Säule macht unsterblich -: für 24 Stunden!" [1] Julius Steiners mokanter Stoßseufzer von 1926 war wohl kaum an die kunsthistorische Forschung adressiert, doch könnte sich diese auch fast hundert Jahre später noch durchaus angesprochen fühlen. Stattdessen zeigt sich die akademische Wissenschaft nach wie vor eher reserviert, wenn es um das quantitativ (und qualitativ) sehr große Feld der Gebrauchsgrafik geht - zumindest im deutschsprachigen Raum. Impulse zur Erschließung von Einzelobjekten wie von Konvoluten sind vor allem Ausstellungs- und Sammlungskatalogen einzelner Museen zu verdanken, die sich seit den 1980er-Jahren mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung immer wieder der Plakatkunst widmen. [2]

Mit der Publikation "Zwischen Verklärung und Verführung. Die Frau in der französischen Plakatkunst des späten 19. Jahrhunderts" von Barbara Martin liegt nun eine mit über 400 Seiten breit angelegte, dezidiert kunsthistorische Untersuchung zur Frühzeit des Plakates in Frankreich vor. Die Autorin argumentiert dabei sammlungsunabhängig, also mit Blick auf das gesamte Panorama ihrer Thematik. Ausgehend von einer "ikonografische[n] Untergliederung der [...] dargestellten Frauenfiguren" (16) sollen der "sozial- und mentalitätsgeschichtliche Kontext näher beleuchtet und im Sinne der feministischen Kunstgeschichte kritisch hinterfragt werden" (17).

Auf ein einleitendes Kapitel, in dem neben Forschungsstand und Vorgehen auch der zeitliche und sozialtheoretische Rahmen der Untersuchung abgesteckt werden, folgen sechs Abschnitte, die sich jeweils einer spezifischen Motivgruppe widmen. Hier stellt Martin die in der französischen "Plakatkunst populäre[n] Frauenstereotype" (17) des 19. Jahrhunderts detailliert vor. Sie greift dabei auf zahlreiche Werkbeispiele zurück, die dankenswerterweise durchweg in textbegleitenden Abbildungen reproduziert sind. [3] So fällt es beim Lesen leicht, die ausführlich geschilderten Bildinhalte und -muster am konkreten Exempel nachzuvollziehen. Die Autorin setzt damit zugleich einen deutlichen Akzent innerhalb ihrer Argumentation: Ihr geht es um das Wechselspiel von Vorstellung und Darstellung, von typologischen Kategorien und deren visueller Manifestierung im Plakat. Dem vielgestaltigen Material entsprechend stellt Martin in den einzelnen Kapiteln eine differenzierende Betrachtung der vorab identifizierten Bildkategorien vor. So führt sie beispielsweise die "Parisienne" als einen grundlegenden und sehr beliebten Stereotyp sowohl der "frühen Massenmedien als auch der bildenden Kunst" (51) ein, um in der vergleichenden Betrachtung sinnfällige Unterkategorien auszumachen, die auf verschiedene Lebensbereiche der modernen Großstädterin verweisen sollen. Die Facetten des Stereotyps der Parisienne, so Martin, reichen "von der kompetenten Konsumentin über die Verkörperung modischer Eleganz und Modernität bis hin zur Darstellung sinnlichen Genusses" (51). Ergänzt wird dieses Kapitel um einen Exkurs, der mit Bezug auf Beispiele aus der Salonmalerei und historischen Literatur die Kurtisane als einen weiteren, der Parisienne latent verwandten Stereotyp schildert. Beide Frauenfiguren erfahren durch erotische Aufladung in der bildlichen Darstellung eine Vermischung in der Vorstellung, oder vielmehr: in der Imagination des Betrachters. Plakate, die dergestalt mit der Parisienne als Motiv agieren, eröffnen so Momente einer Transgression, in denen Anstands- wie Klassengrenzen überschritten werden können, ohne jedoch ihren normativen Wert zu verlieren. Die Ambivalenz dieses Stereotyps wird werbetechnisch raffiniert eingesetzt, denn die Parisienne erweist sich sowohl für Frauen wie auch für Männer als eine attraktive Projektionsfläche. Dass der Typus der Parisienne sich damit als ein "rein artifizielles Konstrukt" (82) erweist, wurde bemerkenswerterweise bereits von den Zeitgenossen benannt.

Barbara Martin gelingt in diesem kurzen Abschnitt - der Exkurs wird auf nur acht Seiten abgehandelt - eine Ausdeutung, die das vielschichtige Material überzeugend ergründet. Allerdings verweist gerade die Auslagerung dieser äußerst aufschlussreichen Passage in einen "Exkurs" auch auf eine Verknappung der Analyse, die nachfolgende Kapitel gleichfalls betrifft. Die Autorin bleibt im Verlauf der Argumentation eng ihrem gedanklichen Ausgangspunkt verhaftet, der eine ikonografisch motivierte Einteilung in Figurentypologien vorsieht. Auf diese Weise werden Kategorien im Rahmen einer konstruierten Ordnung vereinfacht und nachgerade fixiert. Eine übergeordnete Perspektive, die beispielsweise das Spiel mit Ambivalenzen und Transgressionen im Plakat hinterfragt oder Rückschlüsse aus den heterogenen Rezeptions- und Kommunikationsräumen der "Galerie der Straße" (285, mit Rückgriff auf einen in der Forschungsliteratur gängigen Terminus) zieht, kommt darüber leider zu kurz. Die Autorin bleibt sehr dicht an ihrem Material und nimmt es oft überaus wörtlich. Darüber entgeht ihr die eine oder andere überraschende Pointe, etwa der Fall von retrograder Ironie, wenn ausgerechnet mit dem Typus der femme fragile - von der Autorin im Kapitel "Das entrückte Ideal" behandelt - für Feuerlöschgranaten geworben wird (171, Abbildung 125).

Der Intention, mögliche Wechselwirkungen von Bild- und Lebenswelt näher zu beleuchten, kommt die Autorin im Verlauf des siebten Kapitels wieder näher. Vor allem die nachfolgenden drei Abschnitte rücken verstärkt den sozialen und politischen Kontext in den Vordergrund. Martin konstatiert hier einen interessanten Widerspruch zwischen dem theoretischen Ansatz der Gestalter, die "die soziale Verantwortung des Mediums" (283) betonen, und einer Darstellung der Frau im Plakat, die von Sozialromantik und ästhetischer Verklärung überformt ist. Eine "ernstzunehmende, kritische Auseinandersetzung mit der bestehenden sozialen Ungleichheit" (298) wird somit nicht geleistet. Mehr noch: Die Werbung für Luxusprodukte konterkariert nicht nur die tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse, sie indiziert auch eine Instrumentalisierung der Frau, die hier selbst zur Ware gemacht wird. Als Ausweis für die Finanzkraft des (Ehe)Mannes gerinnt die Frauenfigur zu einem "Prestigeobjekt und Statussymbol" (393), eine Steigerung ihres Objektcharakters zeichnet sich nur noch in den Exzessen einer hocherotisch aufgeladenen Werbung ab.

Mit ihrer Publikation legt Barbara Martin eine material- und kenntnisreiche, umfassende Erschließung der Thematik vor. Vielgestaltigkeit und Widersprüche bestimmen ebenso wie Klischeebilder und männliches Wunschdenken die Darstellung der Frau in der französischen Plakatkunst des späten 19. Jahrhunderts. Dass die Frauenfigur dabei nicht nur als Projektionsfläche für die Vorstellung der Betrachter dient, sondern den männlichen Akteuren auch als Mittel zur Abgrenzung und Eigenbestimmung dient, wird von der Autorin nur kurz angerissen. Das Thema bietet viel und ist noch lange nicht erschöpft - mit der Publikation liegt nun Grundlagenforschung vor, die Stoff für viele mögliche Ausstellungen vorhält.


Anmerkungen:

[1] Julius Steiner: Einfälle. Gebrauchs = Graphorismen, in: Gebrauchsgraphik 3 (1926), H. 5, 15.

[2] Jüngstes Beispiel ist die Ausstellung "Gestaltete Sehnsucht. Reiseplakate um 1900" des Hessischen Landesmuseums Darmstadt (27.10.2016-22.01.2017). Der begleitende Katalog wurde von Mechthild Haas und Davide Dossi herausgegeben.

[3] Neben 278 Schwarz-Weiß-Abbildungen umfasst der Band auch 16 Farbreproduktionen.


Helen Barr

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Empfohlene Zitierweise:

Helen Barr: Rezension von: Barbara Martin: Zwischen Verklärung und Verführung. Die Frau in der französischen Plakatkunst des späten 19. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2016
in: KUNSTFORM 18 (2017), Nr. 2,

Rezension von:

Helen Barr
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Redaktionelle Betreuung:

Jessica Petraccaro-Goertsches