Rezension

Andrea Bambi / Axel Drecoll: (Hgg.) Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, ISBN 978-3-11-040484-5, 24.95 EUR
Buchcover von Alfred Flechtheim
rezensiert von Tanja Bernsau, Institut für Kunstgeschichte, Justus-Liebig-Universität, Gießen

Die Frage der Herkunft von Kunstwerken, die während der NS-Zeit ihren meist jüdischen Eigentümern auf ganz unterschiedliche Weise entwendet wurden, beschäftigt auch heute, mehr als 70 Jahre später noch Museen, Kunsthandel und die Erben der damals Geschädigten. Heute erfolgen die Recherchen nach der Herkunftsgeschichte von Kunstgegenständen häufig einzelfallbezogen und damit schlaglichtartig. Publikationen über die Hintergründe des NS-Kunstraubs, ihre institutionellen Verknüpfungen und Protagonisten dieser Zeit helfen den Provenienzforschern, einen Überblick über das gesamte Gebiet zu erhalten. Eine solche Publikation ist die hier vorgestellte über den jüdischen Kunsthändler Alfred Flechtheim, der eine zentrale Figur im europäischen Kunstmarkt vor und zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft darstellte. Zu Wort kommen in einzelnen, aber thematisch zusammengefassten Beiträgen neben den Herausgebern weitere ausgewiesene Experten auf dem Gebiet der NS-Raub- und Beutekunst, die auch in ihrer Praxis mit dem "Fall Flechtheim" zu tun haben.

Die Publikation zu Flechtheim ist nicht die erste, die sich mit der Thematik auseinandersetzt. So gibt bereits die Einleitung einen detaillierten Überblick über die bisherige Forschungsliteratur. Die vorliegende Publikation kann deshalb auf eine separate biografische Vorstellung der Person Flechtheims verzichten und sich schlaglichtartig auf einzelne Aspekte beziehen. Während sich drei Aufsätze im ersten Teil mit der grundsätzlichen Problematik von Raubkunst und Restitution beschäftigen und Teil drei ebenfalls in drei Aufsätzen vergleichbare Fälle anderer Kunsthändler vorstellt, ist Kapitel II und IV der Person Alfred Flechtheims, seinem Galeriebetrieb sowie ausgewählten Kunstwerken samt ihrer Provenienzen gewidmet. Um der Internationalität des Themas Rechnung zu tragen, sind die einleitenden Beiträge zweisprachig abgedruckt, die längeren Hauptartikel zumindest mit einem englischsprachigen Abstract versehen. Die Publikation ist der dritte Teil des Forschungsprojekts Alfred Flechtheim.com | Kunsthändler der Avantgarde, dessen erster Teil ein museumsübergreifendes Ausstellungsprojekt und zweiter Teil eine Website war.

Alfred Flechtheim, Sohn eines jüdischen Getreidehändlers, sollte in die geschäftlichen Fußstapfen seines Vaters treten. Seine Leidenschaft galt jedoch der modernen Kunst, allen voran der französischen Avantgarde. Noch in der väterlichen Firma tätig, organisierte er bereits vor dem Ersten Weltkrieg Ausstellungen und versuchte Kontakte zu Händlern, Sammlern und den von ihm geschätzten Künstlern zu knüpfen, um im Kunstmarkt Fuß fassen zu können. Damit war er sehr erfolgreich, bis das NS-Regime dieser Profession ein Ende bereitete. Im Oktober 1933 musste Flechtheim emigrieren, bereits 1937 starb er in London an einer Blutvergiftung in Folge eines Sturzes. Dazwischen liegen Jahre des Bemühens, in Paris beziehungsweise London wieder als Kunsthändler tätig zu sein. Und immer wieder Erwerbungen für Flechtheims eigene Kunstsammlung. Der Versuch, diese private Sammlung neben dem Galeriebetrieb zu rekonstruieren, ist die Aufgabe des 2008 gestarteten Projekts zu Alfred Flechtheim, über das Andrea Bambi in einem der zentralen Aufsätze berichtet. Die renommierte Provenienzforscherin erläutert dabei die Schwierigkeit, nach so langer Zeit zwischen privatem und geschäftlichem Besitz zu unterscheiden, was durch Emigration, Scheidung von seiner Ehefrau Betti und kriegsbedingten Verlust der Unterlagen noch weiter erschwert wird. Die Grenzen zwischen privat und geschäftlich verwischen bei diesem prominenten Kunsthändler. 2012/2013 konnten erste Rechercheerfolge verzeichnet werden, die zur Restitution bzw. Entschädigung für einzelne Werke führten. Wesentliche Quellen waren dabei neben den Ausstellungskatalogen auch die Korrespondenz, die Flechtheim mit den vielen Mitgliedern seines Netzwerks führte. Wenn auch für einzelne Werke die Provenienzgeschichte aufklärbar ist, so konstatiert Bambi dennoch, dass "die Rekonstruktion der privaten Sammlung des Kunsthändlers und Sammlers Alfred Flechtheim im Rückblick unmöglich wird" (80).

Provenienzforscher stehen heute vor der Frage, welche Werke zu Flechtheims Galeriebetrieb gehörten, welche nur kommissarisch zum Verkauf angeboten wurden und welche Flechtheim für seine eigene Sammlung erworben hatte. Hinzu kommt die bedingt durch die NS-Zeit wechselhafte geografische Verortung: Welche Kunstwerke hatte Flechtheim bei der Emigration mitnehmen können, welche blieben bei seiner Frau oder in seiner Galerie in Deutschland zurück? Welche Kunstwerke gingen bei der Arisierung der Flechtheimschen Galerie in das Eigentum des Nachfolgers Alex Vömel über?

In den abschließenden Fallbeispielen wird verdeutlicht, dass eine Entscheidung, ob es sich denn bei einem Werk aus ehemaligem Flechtheimschen Besitz um Raubkunst handelt, nicht immer einfach ist, dass eine lückenlose Aufklärung nicht erreicht wurde - und vermutlich auch gar nicht mehr erreicht werden kann.

Als Sammelband einzelner Aufsätze kann diese Publikation naturgemäß keinen vollständigen Überblick über das Thema "Alfred Flechtheim" geben. Dennoch wurden hier neue Aspekte des Händlers und Sammlers, die über eine reine biografische Darstellung hinausgehen, herausgearbeitet, sodass diese Publikation die Provenienzforschung mit weiterem Hintergrundwissen versorgt, um die Gesamtzusammenhänge der Kunstlandschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besser verstehen zu können.


Tanja Bernsau

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Empfohlene Zitierweise:

Tanja Bernsau: Rezension von: Andrea Bambi / Axel Drecoll: (Hgg.) Alfred Flechtheim. Raubkunst und Restitution, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
in: KUNSTFORM 17 (2016), Nr. 9,

Rezension von:

Tanja Bernsau
Institut für Kunstgeschichte, Justus-Liebig-Universität, Gießen

Redaktionelle Betreuung:

Jessica Petraccaro-Goertsches