Rezension

Annika Michalski: "Ich spiele mich, wie ich bin". Die Selbstdarstellungen Werner Tübkes von 1940 bis 2004, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 386 S., ISBN 978-3-412-22403-5, 49.90 EUR
Buchcover von "Ich spiele mich, wie ich bin"
rezensiert von Dorle Meyer, Deutsches Museum, München

Werner Tübke - neben Wolfgang Mattheuer und Bernhard Heisig bekannt als Mitbegründer der viel gerühmten Leipziger Schule - zählt heute zu den wohl wichtigsten deutschen Künstlern am Ende des 20. Jahrhunderts. Im Spannungsfeld zwischen eigenen Idealvorstellungen und einer als problematisch empfundenen Realität, zwischen persönlichem künstlerischen Stil und Aufträgen von Seiten der DDR-Regierung, die den Sozialistischen Realismus als künstlerisches Vorbild propagierte, entwickelte er eine individuelle und faszinierende Bildsprache. Detailreich und mit viel Erfindergabe schuf Tübke in seinen Werken, in denen er sich vor allem mit Themen wie dem weltumspannenden Gesellschaftskonflikt, der Geschichte der Arbeiterbewegung oder dem Neofaschismus auseinandersetzte, ganze Geschichten mit teils widersprüchlichen, metaphorischen oder gar versteckt kritischen Botschaften. Orientiert an christlich-abendländischer Bildtradition und alten deutschen Meistern wie Lucas Cranach und Albrecht Dürer bildete er dabei einen speziellen magischen Realismus mit manieristischen und surrealistischen Zügen heraus. Charakteristika, die sich beispielsweise auch in seinem wohl berühmtesten Werk, dem Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen finden, in welchem er auf einer monumentalen Leinwand in Gedenken an Thomas Müntzer und den Deutschen Bauernkrieg in den Jahren 1976 bis 1987 ein ganzes Welttheater entwarf.

Trotz seines vielseitigen, bedeutenden und umfangreichen Œuvres steht eine tiefer gehende Beschäftigung mit Tübkes Werk in Teilen bislang noch aus. Wichtige grundlegende Publikationen, wie der "Bestandskatalog der Gemälde" (Annika Michalski, Frank Zöllner/ 2008) und der "Bestandskatalog der Zeichnungen und Aquarelle" (Eduard Beaucamp, Annika Michalski, Frank Zöllner/ 2009) der Tübke-Stiftung in Leipzig oder beispielsweise auch die Monografie "Werner Tübke. Leben und Werk" (Günter Meißner/ 1989) und "Werner Tübke: das malerische Werk. Verzeichnis der Gemälde von 1976 bis 1999" (Brigitte Tübke/ 1999) geben einen generellen Einblick in Tübkes Schaffen. Auch existieren Einzeluntersuchungen zu besonders herausragenden Werken wie dem Bauernkriegspanorama - "Werner Tübkes Panoramabild in Bad Frankenhausen [...]" (Harald Behrendt/ 2006) - oder dem Flügelaltar in Clausthal-Zellerfeld - "Der Flügelaltar von Werner Tübke in der Kirche St. Salvatoris in Clausthal-Zellerfeld: eine ikonologische Deutung" (Kristina Radday/ 1997). Doch gibt es darüber hinaus wichtige wie auch aufschlussreiche Einzelmotive und -gattungen in Tübkes Werk, die bis dato überraschenderweise unberücksichtigt geblieben sind, obwohl sie für das Verständnis des Künstlers elementar sind. Insbesondere seine Selbstdarstellungen, die er in großer Vielseitigkeit und in allen künstlerischen Techniken ins Bild brachte, spielen eine bedeutende Rolle und wurden bislang nur wenig - dabei weder systematisch, noch tiefgehend - untersucht. Einer der wenigen Artikel, die zumindest einen Ansatz bieten, ist der in "Kunststoff" erschienene Beitrag "Ein Maler in wechselnden Rollen - Werner Tübke als Harlekin und Pantokrator" (Zöllner/ 2008). Diese spannende Facette rückt nun die 2014 vom Böhlau Verlag herausgegebene Publikation "'Ich spiele mich, wie ich bin'. Die Selbstdarstellungen Werner Tübkes von 1940 bis 2004" von Annika Michalski in den Fokus.

Die Autorin, die das Thema zuvor z.B. in dem Aufsatz "Das Entschwinden des Künstlers in den Raum" (2012) bereits bearbeitet hat, widmet sich in ihrer Dissertation auf gut 240 Seiten nun ganz der Entschlüsselung der Tübke'schen Selbstbildnisse. In vier Hauptabschnitten schlägt sie den klassischen Bogen von einer einleitenden Darlegung des Forschungsstandes, der Rolle des Künstlers in der DDR und der Methodik zuerst über die typologische und anschließend über eine eingehende chronologische Untersuchung der Selbstporträts bis hin zum abschließenden Resümee. Das Hauptgewicht liegt dabei eindeutig auf der chronologischen Erforschung, wobei Michalski Tübkes Selbstbildnissen in vier Unterkapiteln nachspürt, die das Schaffen des Künstlers in Blöcke von rund 15 Jahren unterteilen: das autonome Selbstporträt in den künstlerischen Anfängen, das Selbstbildnis als gesellschaftspolitische Reaktion, als Rollenspiel und letztlich das Entschwinden des Künstlers aus den Porträts. Ergänzt werden die Untersuchungen durch ein umfangreiches Werkverzeichnis, welches - die typologische Ordnung des zweiten Kapitels wiederaufnehmend - einen beeindruckenden Überblick über Tübkes 288 als solche definierte Selbstporträts gibt.

Die den Zeitblöcken vorangestellten Einführungen geben dabei kurz und pointiert Einblick in die jeweilige politische Situation der Zeit und den persönlichen Kontext des Künstlers, um die Entwicklung jener Jahre und der darin anzusiedelnden Bildnisse erklärend einzubetten. So spinnt Michalski beispielsweise in dem Unterkapitel "Selbstdarstellung auf dem Höhepunkt: Rollenspiele 1971 bis 1989" den Faden vom kultur-, außen-, innen- und wirtschaftspolitischen Wandel der DDR in den 1960er-Jahren im Rahmen der "Politik der Annäherung" mit der Bundesrepublik unter Willy Brandt hin zum Wandel künstlerischer Ausrichtungen und auch Selbstwahrnehmung. Dies führt bei Tübke in der Folgezeit zu einem enormen Anstieg von Selbstdarstellungen und vor dem Hintergrund seiner gesellschaftlichen Anerkennung für das spektakuläre Frankenhausener Panoramagemälde zu einer offenbar zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle über das Harlekin-Motiv.

Dieses Verweben der Porträts mit Tübkes künstlerischer Laufbahn sowie mit dem tiefgehend recherchierten historischen und politischen Kontext ist Grundtenor des Buches und macht es zu einer interessanten, eingängigen und informativen Lektüre. Der Kosmos der Selbstdarstellungen Tübkes wird strukturiert gebündelt und vorgestellt sowie seine Bedeutsamkeit deutlich gemacht. Zu hinterfragen ist allerdings der Wechsel zwischen der zuweilen typologischen, dann wieder chronologischen Betrachtungsweise dieser Gattung. So geht im Werkverzeichnis mit seiner Sortierung nach Gruppen und Motiven der Blick für das Changieren und Weiterentwickeln der im Text chronologisch dargelegten künstlerischen Selbstreflexion wieder verloren. Im gleichen Zuge sind an manchen Stellen der Untersuchung noch eingehendere Bildanalysen wünschenswert, wo teils die Kontextualisierung mehr im Vordergrund steht als die Betrachtung der Werke.

Diese Kritikpunkte schmälern jedoch nicht den Wert dieser umfassenden und fundierten Gesamtdarstellung zu den Selbstporträts, die eine wichtige Lücke in den Publikationen über Werner Tübkes künstlerisches Schaffen schließt.


Dorle Meyer

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Dorle Meyer: Rezension von: Annika Michalski: "Ich spiele mich, wie ich bin". Die Selbstdarstellungen Werner Tübkes von 1940 bis 2004, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
in: KUNSTFORM 17 (2016), Nr. 12,

Rezension von:

Dorle Meyer
Deutsches Museum, München

Redaktionelle Betreuung:

Jessica Petraccaro-Goertsches