Rezension

Martine Clouzot: Musique, Folie et Nature au Moyen Âge. Les figurations du fou musicien dans les manuscrits enluminés (XIIIe-XVe siècles), Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014, ISBN 978-3-0343-1306-3, 100.70 EUR
Buchcover von Musique, Folie et Nature au Moyen Âge
rezensiert von Martina Papiro, Schola Cantorum Basiliensis - FHNW, Basel

Klein ist die Figur des Narren in der Buchmalerei, doch mächtig: Mit lebhaften Gebärden und klingenden Schellen stellt er Gott und die Welt in Frage. Der Narr findet in mittelalterlichen illustrierten Psaltern, Stundenbüchern oder Chroniken seinen letztlich system-tragenden Ort. Wo und wie er Welten- und Wissensordnungen ins Wanken bringt, untersucht Martine Clouzot in ihrer Habilitationsschrift zu den Figurationen des Narren in der Buchmalerei von 1250 bis 1500.

Diese fünf Teile umfassende Studie untersucht die Konzepte von Torheit, Musik und Natur, die in der Figur des Narren zusammentreffen. Ihr Zusammenhang ergibt sich nicht nur äußerlich, etwa beim musizierenden oder mit Schellen ausgestatteten Narren als Teil der Schöpfung. Vielmehr geht es hier um die gemeinsamen Prinzipien der Proportion, der Umkehrung (inversio) und der Bewegung, welche alle drei Konzepte essenziell kennzeichnen. Clouzot nähert sich diesen Figurationen und Konzepten aus multidisziplinärer Perspektive, wobei ihre grundsätzliche Betrachtungsweise anthropologisch fundiert ist.

Der einleitende Teil klärt über den übergeordneten Zusammenhang von Torheit, Natur und Musik auf. Dazu steigt Clouzot nicht bei den mittelalterlichen Begriffen der Torheit ein, sondern bei ihrem Gegensatz, beim Wissensbegriff. Das System der Freien Künste, das sich an den Universitäten etablierte, bot einen Weg zur Erlangung von Wissen (scientia) und Weisheit (sapientia) - die Freien Künste wurden als Mittel zur Erkenntnis der göttlichen Schöpfung, also der Natur, verstanden. Musica ist als Freie Kunst in diesem System verankert und über dieses auch mit scientia und natura verknüpft. Der Rhetorik als der Kunst, mit der man Wissen gliedert, memoriert und sprachlich vermittelt, kommt für die Analyse der Figuration des Narren eine tragende Funktion zu.

Vor diesem Hintergrund erschließt Clouzot nun das Corpus der ca. 230 illustrierten Handschriften in formaler Hinsicht: Wo auf der Buchseite findet sich welcher Typus von Narrenfigur und zu welcher Textgattung gehört er? Clouzot unterscheidet drei verschiedene Narrentypen: Der "insipiens" agiert in den figurierten Initialen, der "insensé-fou" belebt die Randleisten gemeinsam mit den Ornamentranken, Tieren, Mischwesen und Spielleuten und der "fol", als chronologisch späteste Erscheinung, findet sich in den selbständigen Miniaturen. Allen drei Typen schreibt Clouzot die Funktionsweise und Wirkmacht einer rhetorischen Figur zu, welche die Imagination der Leser besonders stark anzuregen vermag (besonders 55-78).

Der zweite Teil widmet sich der illustrierten Buchseite als Wissens-System, das auch die Ordnung der Natur repräsentiert: Musizierende Narren, hybride Wesen und Tiere bevölkern die vegetabilen Ranken, die den Text umrahmen und bilden ihm eine Gegenwelt (mundus inversus, 79-82). Ausgehend von der Wahrnehmungstheorie, der Fakultätenlehre und den Definitionen des Klangs nach Aristoteles arbeitet Clouzot heraus, welche erkenntnistheoretische Funktion der Narr im Kontext der Buchseite haben kann: Da er durch sein verdrehtes Gebaren und "Tönen" die Ordnung der Buchseite bzw. der Natur stört, ist der Narr diejenige Figur, welche die Spannung zwischen Animalität und menschlicher Rationalität besonders deutlich exponiert.

Im dritten Teil wendet sich Clouzot der Ikonografie des Narren zu, besonders des insipiens der Psalminitialen. Dieser erscheint durch seine Gestaltung und Attribute sowohl als wesensähnlich mit Adam und zugleich als dessen animalische Gegenfigur. Im Kontext einer illustrierten Buchseite eignet sich die ambivalente Figur des Narren ideal, um über den Status des Menschen nach dem Sündenfall sowie über dessen Erkenntnisfähigkeit zu reflektieren.

Die moraltheologische Bedeutung, die den Figurationen des Narren in Gebetbüchern und Chroniken zukommt, erläutert Clouzot im vierten Teil. In Psalm 52 "Dixit insipiens in corde suo: non est deus" negiert der Narr die Existenz Gottes und macht sich damit der Lästerung und des Hochmuts schuldig. Durch wechselnde Zuordnung zu den Tugenden und Lastern erhielt die Torheit des Narren verschiedene Ausprägungen (als Unwissenheit, Blödigkeit oder Dummheit etc.). Bei den Zisterziensern und der Franziskanern erlangte die Torheit im Sinne der Demut und Selbsterniedrigung aus Liebe zu Gott gar eine positive Bewertung. Das Inversions-Verhältnis von Torheit und Weisheit (Paulus, 1 Kor 1-2) wird hier ausgesprochen klar.

Ab dem 14. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Hofnarren, verstärkt sich der Bezug zwischen den Darstellungen der Torheit und der politischen Aktualität. So fokussiert der fünfte Teil die Figurationen des Narren in illustrierten Fürstenspiegeln und Stundenbüchern, deren Eigentümer weltliche Fürsten waren: Die Narren in den Miniaturen verweisen auf eine "verrückte" Welt und bieten zugleich Denkmodelle sowie proportional umgekehrte Vorbilder für die Herrscher. Besonders anschaulich wird dieser Zusammenhang in der Gegenüberstellung des Narren mit David als dem alttestamentarischen Modell-Herrscher. Abschließend unternimmt Clouzot metaphysisch-spekulative Überlegungen: Inwiefern ist der Narr ein Bild für das Erkenntnisvermögen des Menschen? Dienen die Figurationen des Narren kraft ihrer speziellen Funktionsweise der Erlangung von Weisheit?

Erstmalig wurden die Figurationen des Narren in der Buchmalerei derart umfassend untersucht. Kundig und verständlich führt Clouzot ein in die mittelalterliche Musikikonografie, in den Wissensbereich der ars musica und in die aristotelische Naturphilosophie. [1] Aus dem mittelalterlichen Denken heraus deckt sie ungeahnte, substantielle Bezüge zwischen Torheit, Musik und Natur auf, die aus dem Blick eines einzelnen Faches und mit nur einer methodischen Herangehensweise nicht fassbar wären. So zeigt Clouzot die Figur des Narren und die Dimensionen der Torheit in ihrer ganzen Komplexität und Reichhaltigkeit.

Die Leserleitung hätte klarer sein können. Die Perspektive und die Ebene, auf der die Interaktion von Torheit, Musik und Natur verhandelt werden, wechseln von Kapitel zu Kapitel; dies nachzuvollziehen und einzuordnen, erforderte von der Leserin viel Energie, zumal dieselben Begriffe jeweils sehr Verschiedenes bezeichnen. Fragen nach der Ikonografie der Torheit oder nach ihrem Verhältnis zu den Texten - insbesondere den Psalmen - oder nach dem Verhältnis zwischen dem Narren und David werden erst ab dem dritten Teil beantwortet, obschon diese Kenntnisse bereits zuvor für die Einordnung hilfreich wären.

Unbefriedigend ist der Umgang mit den bildlichen Darstellungen: Auf das Corpus der illustrierten Handschriften verweist Clouzot durchweg nur bibliografisch in den Fußnoten, gelegentlich beschreibt sie ausführlicher mehrere Beispiele (z.B. 190-194, um Hybridisierungsformen des Narren zu veranschaulichen). Doch das Buch kommt mit nur 14 Abbildungen aus, die nicht alle eingehend besprochen werden. So hat man nicht die Möglichkeit, Clouzots Aussagen anschaulich nachzuvollziehen und tut man es doch anhand von Digitalisaten im Internet, trifft man auf Ungenauigkeiten. So wird Abbildung 3 im Nachweis und im Text (81, 159, 244) falsch als "Psalter von Robert De Lisle" bezeichnet. Das mangelhaft abgebildete Folio 40v. stammt aber aus dem Howard-Psalter, mit welchem der De Lisle-Psalter heute zusammengebunden ist. [2] So konstruiert Clouzot auf Seite 244 eine falsche Verkettung zwischen den Figurationen aus beiden Psaltern, die so nie bestanden hat; auch übersieht sie, dass der insipiens in der Initiale dieser Seite nicht König David, sondern Saul gegenüber steht, und dieser durchbohrt sich gerade mit einem Schwert. Genau auf dieses Motiv geht Clouzot auf Seite 245-246 ein, mit einem Verweis auf eine andere, nicht abgebildete illustrierte Handschrift, wo doch an dieser Stelle das Beispiel aus dem Howard-Psalter ihre Argumentation ideal stützen würde.

Martine Clouzots Studie ist für alle lesenswert, die jenseits einer einzelnen Fachperspektive etwas über Torheit, Musik, Natur und Buchmalerei erfahren wollen.


Anmerkungen:

[1] Ihre vorausgegangenen Studien ermöglichten auch die Weiterführung und Vertiefung der Themen in Bezug auf die Figur des Narren. Siehe z.B. Martine Clouzot: Le Jongleur. Mémoire de l'image. Figures, figurations et musicalité dans les manuscrits enluminés, 1200-1330, Bern u.a. 2011.

[2] Die beiden Psalter-Fragmente befinden sich in London, British Library, Arundel 83 I (Howard-Psalter, fol. 6-116v, fragmentarisch erhalten) und Arundel 83 II (De Lisle-Psalter, fol. 117-135). Vgl. https://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/record.asp?MSID=6458&CollID=20&NStart=83 (24.4.2015).


Martina Papiro

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in: KUNSTFORM 16 (2015), Nr. 7,

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Martina Papiro
Schola Cantorum Basiliensis - FHNW, Basel

Redaktionelle Betreuung:

Philippe Cordez