Rezension

Valentine Henderiks: Albrecht Bouts (1451/55 - 1549). , Turnhout: Brepols Publishers NV 2011, 458 S., ISBN 978-2-930054-15-5, 90.00 EUR
Buchcover von Albrecht Bouts (1451/55 - 1549)
rezensiert von Susanne Franke, Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Neben der Flut an Literatur zu den "großen" Altniederländern ist jetzt die erste und zugleich umfassende Monografie über den Maler Albrecht Bouts erschienen. Valentine Henderiks veröffentlichte vor kurzem ihre Dissertation "Albrecht Bouts (1451/55-1549)", die 2010 von der Belgischen Königlichen Akademie mit dem Lavalleye-Coppens-Preis geehrt wurde, in der Reihe "Contributions" des Centre d'Étude des Primitifs Flamands. Nicht ohne Grund, denn getreu dem Standard des renommierten Forschungsinstituts besticht der zehnte Band durch sehr gute Qualität sowohl hinsichtlich der Sorgfalt, Ernsthaftigkeit und Tiefe der Analysen als auch in Hinblick auf die technologischen Untersuchungen und die damit verbundene visuelle Präsentation der Ergebnisse.

Wer die zahlreichen Werke kennt, die die sogenannte Boutsgruppe konstituieren, der weiß, wie schwer es bis heute ist, die Maler im Schatten des Dirk Bouts als eigenständig zu definieren. Henderiks, die bereits an der 2005 von Catheline Périer-D'Ieteren publizierten Neubewertung der Werkgruppe "Dirk Bouts" mitgearbeitet hat, arbeitet auch bezüglich des jüngeren Sohns sehr gelungen mit der Stilkritik. Dabei befragt sie, von feststehenden Daten ausgehend, mit größter Genauigkeit alle verfügbaren Bildquellen.

Der Band ist in drei große Abschnitte gegliedert, denen ein nahezu 300 Gemälde umfassender Catalogue raisonné (339-417) folgt. Nur sechzehn Werke sind dabei als eigenhändig übrig geblieben. Vierundzwanzig weitere ordnet Henderiks der Werkstatt beziehungsweise dem Umfeld zu. Der überwiegende Teil der Tafeln, die in den zahlreichen Museen und Privatsammlungen mit dem Namen "Albrecht Bouts" versehen wurden, sind jedoch lediglich Kopien der Andachtsbilder, für die Dirk und Albrecht Bouts seit Panofskys grundlegendem Aufsatz "Imago Pietatis" bekannt sind: der dornenbekrönte Christus als Brustausschnitt mit und ohne der ihren Sohn anbetenden Maria. Fast genauso oft finden sich das Christusporträt und die Johannesschüssel. Ferner sind weitere Bildtypen in Serie nach immer dem gleichen Prototypus tradiert worden, darunter etwa der "heilige Hieronymus in der Einöde".

Glücklicherweise gibt es einen greifbaren Ausgangspunkt für die Charakterisierung der Malerhand: Im Mittelpunkt des ersten Abschnitts (45-120) steht das Triptychon der "Himmelfahrt Mariens". Wie Molanus überliefert, arbeitete Albrecht Bouts mehrere Jahre daran, bevor er es an die Kapelle Notre-Dame-hors-les-murs gab, der er als Küster vorstand (heute: Brüssel, Königliche Museen). Ein Wappen des Malers auf dem rechten Flügel schafft nicht nur Gewissheit, sondern auch eine Verbindung zu einem zweiten Werk, der "Verkündigung" in der Alten Pinakothek in München. Dort präsentiert Albrecht sein Signum in der Butzenscheibe des Hintergrunds: Ein "A" prangt über dem Schnittpunkt der zwei gekreuzten Bolzenpfeile, die den Familiennamen Bouts versinnbildlichen und das Wappen der Lukasgilde bekrönen. Beide Werke datiert Henderiks um 1500, denn sie zeugen davon, dass Albrecht einen persönlichen Stil gefunden hat, der jenseits der Generation seines Vaters eine eigene Qualität entwickelt.

Das ist vor allem der zeitlichen Distanz zur Arbeit in der väterlichen Werkstatt geschuldet. Die künstlerischen und maltechnischen Neuerungen des beginnenden 16. Jahrhunderts hatten entscheidenden Anteil daran, dass Albrecht den Kontrast der bunten Farben zugunsten eines stärker atmosphärischen Gesamteindrucks milderte und die Physiognomien feiner modellierte. Dabei entwickelte er eine kleinteilige, zarte Malweise, die fast grafisch anmutet und nicht nur den Figuren und Motiven des Vordergrunds gilt, sondern auch noch in der Tiefe des Raums zu finden ist.

Nicht ohne Einfluss sind zudem die späten Werke von Hugo van der Goes. Albrechts Figurensprache wurde von der des Genter Malers wesentlich geprägt. Ausdrucksstarke Gesten, Körper und Blickbeziehungen entdeckt man zum Beispiel ganz offensichtlich inspiriert von den Aposteln des Goes'schen "Marientodes" bei den Figuren der Bouts'schen "Auferstehung Mariens". Die Nobilitierung der gestischen Interaktion findet sich schon in den Werken, die Henderiks der frühen Schaffensperiode Albrechts zuordnet: so etwa in der empfehlenden und dabei die gesamte Figur bestimmenden Geste des Johannes im Stifterporträt der Berliner Gemäldegalerie, das Henderiks um 1475 datiert. Auch ermöglicht erst die offensichtlich den gesamten Körpereinsatz fordernde Drehbewegung des Christopherus die frontale Ausrichtung des kleinen, vermeintlich leichten Jesuskindes, das der Heilige trägt (Modena, Galleria Estense). Diesem, in die 1480er-Jahre datierten Werk folgt eine "Madonna" (Cambridge, Harvard University Art Museum), die Henderiks zeitlich und stilistisch mit der Münchner "Verkündigung" um 1500 verbindet. Auch ihnen ist vor allem eine gestische Verinnerlichung eigen, die Dirk Bouts und Hugo van der Goes als emotionale Betrachteransprache entwickelten und der Albrecht durch seine Gewissenhaftigkeit nochmals eine neue Dimension abgewinnen kann.

Der zweite Abschnitt (121-206) ist denjenigen unter der Vielzahl der Werke gewidmet, die sich nicht problemlos aus dem Malerœuvre ausscheiden lassen. Darunter sind das bekannte Beweinungstriptychon aus dem Frankfurter Städel und die "Auferstehung Christi" (Cambridge, Fitzwilliam Museum). Letzterer ordnet Henderiks überzeugend zwei Flügel zu, die sich noch 2007 im Kunsthandel befanden. Außerdem behandelt sie eine Reihe weiterer, künstlerisch sehr anspruchsvoller Werke, die bis heute undiskutiert blieben. Die Gemälde, die Henderiks der Werkstatt zuordnet, wirken als Gruppe betrachtet durchaus heterogen, weisen im Einzelnen jedoch auch das auf, was die Autorin für Albrecht Bouts als charakteristisch definiert: sie tradieren Bildtypen der ersten Generation in einer neuen Bouts'schen feinmalerischen Manier.

Der dritte Abschnitt (207-338) thematisiert schließlich das Phänomen der Massenproduktion einiger weniger Bildtypen, die ab 1500 zum bestimmenden Faktor der Werkstattarbeit wurden. Auch in diesem Fall war der Vater derjenige, der die Grundlage für den beruflichen Erfolg des Sohnes legte. Dirk Bouts wandelte bereits das Christusporträt Jan van Eycks zum brauchbaren Andachtsbild (Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen). Ebenfalls von ihm stammt eine weitere, im Zuge der Laienfrömmigkeit noch stärker rezipierte Variante: der dornenbekrönte Christus im Brustausschnitt (London, The National Gallery). Henderiks zeigt zum einen die inhaltlichen Verschleifungen und Entwicklungszusammenhänge von Christusporträt, "Salvator mundi" und "Ecce homo" auf. Zum anderen legt sie offen, wie der Sohn mithilfe einer Technik des Durchpausens, dem bildgebenden Verfahren des Abdrucks nicht unähnlich, Form und Aussehen der väterlichen Bildtypen bewusst bewahrte. Leider konzentrieren sich die Ausführungen hier ein wenig zu sehr auf die genaue Analyse jedes einzelnen der zahlreichen, immer gleichen Werke. Spannender wäre gewesen, mehr über den nicht unerheblichen Einfluss zu erfahren, den die Bildentwürfe der Zeitgenossen von Dirk Bouts, insbesondere Memlings, auf die Genese der später so populären Andachtsbilder hatten.

Erst im Epilog, einem Nachtrag zur Dissertation (418-421), wird schließlich der Künstler Albrecht Bouts als Person greifbar. Kurz nach Abgabe der Arbeit entdeckte Henderiks ein Selbstporträt, das Albrecht Bouts am Ende seines Lebens angefertigt hat (Sibiu, Sammlung Brukenthal). Dargestellt ist ein zu weltlichem Ruhm und Ämtern gelangter, wohlhabender und dabei alt gewordener Mann mit pelzbesetzter Schaube. Er blickt aus dem Bild ins Leere und thematisiert damit ein letztes Mal das sich vor seinem künstlerischen Auge präsentierende Imaginäre. Entscheidend dabei ist, dass seine Linke im gleichen Moment auf einen Totenschädel zeigt, den er dem Betrachter eingehüllt in den Pelzmantel entgegenhält. Die Komposition spiegelt damit einerseits Bouts' maltechnische Meisterschaft, das Erbe seines Vaters und das Selbstbewusstsein des Malenden, das sich mit Albrecht Dürer ab 1500 in den Künstlerselbstporträts der Renaissance durchsetzte. Andererseits weicht Dürers Identifikation mit Christus dem "memento mori", der Gewissheit des Todes, trotz der Fähigkeit des Künstlers, das eigene Antlitz unsterblich zu machen.

Valentine Henderiks widmet sich einem interessanten Künstler, der bisher völlig hinter der Persönlichkeit seines Vaters verschwunden war. Sie entdeckt dabei einen Maler, der es verstand, mit den alten Mitteln Neues zu schaffen. Seine herausragende Leistung ist dabei im gelungenen Zusammenspiel von subtiler gestischer Betrachteransprache und atmosphärischer Landschaft zu sehen, womit er den künstlerischen Veränderungen und Herausforderungen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts intelligent begegnete. Auf der Vollständigkeit und Gewissenhaftigkeit von Henderiks Arbeit kann die künftige Forschung hervorragend aufbauen.


Susanne Franke

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Susanne Franke: Rezension von: Valentine Henderiks: Albrecht Bouts (1451/55 - 1549). , Turnhout: Brepols Publishers NV 2011
in: KUNSTFORM 13 (2012), Nr. 9,

Rezension von:

Susanne Franke
Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität, München

Redaktionelle Betreuung:

Dagmar Hirschfelder