Rezension

Andreas Schalhorn: (Hg.) Neue Realitäten. FotoGrafik von Warhol bis Havekost, Köln: Wienand 2011, 96 S., ISBN 978-3-86832-061-9, 25.00 EUR
Buchcover von Neue Realitäten
rezensiert von Elisabeth Furtwängler, Institut für Kunstgeschichte, Universität Leipzig

Unter der Wortschöpfung "FotoGrafik" findet man im Internet nahezu ausschließlich Seiten von Werbeagenturen. Das verwundert kaum, denn seit ihren Anfängen ist die Fotografie immer wieder Verbindungen mit der Gebrauchsgrafik eingegangen. Als in den 1960er-Jahren verstärkt Werbung und Trivialkultur in die Kunst Einzug hielten, wurden diese Verbindungen intensiv nutzbar gemacht. Seitdem ist "FotoGrafik" ein fester Bestandteil im Schaffen zahlreicher Künstler. Eine fotografische oder filmische Vorlage, aber auch selbst fotografiertes Bildmaterial, wird, teils mit den erweiterten Möglichkeiten digitaler Technik, druckgrafisch bearbeitet und so in eine neue (Bild-)Realität überführt.

Das Berliner Kupferstichkabinett widmete diesem Phänomen nun eine größere Ausstellung mit begleitendem Katalog. [1] Das Projekt bot unter anderem Gelegenheit, herausragende Arbeiten aus den eigenen Beständen zeitgenössischer Druckgrafik zu präsentieren und diesem Sammlungsbereich die gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Andreas Schalhorn, der verantwortliche Kurator, führt in seinem Katalogbeitrag "Neue Realitäten. Fotografische Bilder im Medium der Druckgrafik" die der Ausstellungsstruktur zugrunde liegenden Überlegungen aus. Zunächst beleuchtet er mit Mitteln der "FotoGrafik" erzeugte Porträts, im darauffolgenden Abschnitt behandelt er Ereignisbilder. Innerhalb beider Gruppen stellt er bestimmte Bildstrategien und deren Wirkung heraus: Beispielsweise nutzte Andy Warhol den Siebdruck, um den Effekt der Verfremdung zu erzeugen und damit - unter anderem - vom Konterfei Marylin Monroes eine Maske in beliebig variier- und reproduzierbaren Farbkombinationen zu schaffen, welche so zur Ikone der Massenkultur wurde. Als weitere Bildstrategien benennt Schalhorn Unschärfe und Rasterungsstruktur, die beide auf vielfältige Weise generiert werden können. So rastert der Fotorealist Chuck Close sein eigenes fotografisches Porträt und fertigt dann davon eine Radierung an. Hingegen weist etwa bei Rosemarie Trockel oder Jan Svenungsson entweder die Vorlage eine ihrer Drucktechnik geschuldete Strukturierung auf, oder es entsteht durch das Reproduktionsmedium eine Rasterung, welche von der Künstlerin bzw. vom Künstler hervorgehoben und inszeniert wird.

Weshalb Schalhorn die Unterteilung in Porträts vornimmt, wird nicht ganz ersichtlich, zumal er zur Beleuchtung der gut beobachteten Strategien ganz unterschiedliche Motive heranzieht. Man gewinnt aber den Eindruck, dass Künstler besonders häufig Fotoporträts zur druckgrafischen Bearbeitung wählen und möchte mehr über ihre Beweggründe erfahren.

Bei der Gruppe der Ereignisbilder lässt sich dieser Umstand einfacher erklären. Massenmedial verbreitete Reportagebilder fordern durch affektgeladenen Inhalt die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen heraus und bieten gleichzeitig die dafür notwendige Grundlage. Die hohen Auflagen von Siebdruck und Offset-Lithografie ermöglichen es, ein breites Publikum zu erreichen. So wurde im politisierten Klima der 1970er-Jahre das Potential der "FotoGrafik" verstärkt für politisch engagierte Kunst eingesetzt, etwa von Wolf Vostell und Richard Hamilton. Geschichtsdokumentarisches Film- und Fotomaterial wird aber auch von jüngeren Künstlern druckgrafisch verwertet, wie etwa in der Arbeit "don't look back" (1998) von Thomas Klipper, der unter anderem das Pressebild zur Entführung von Martin Schleyer durch die RAF in den Holzfußboden eines ehemaligen NS-Internierungslagers gravierte und dann abdruckte. Das Werk wird so durch die Historizität des genutzten Mediums symbolisch aufgeladen - ein prägnantes Beispiel für den vielfältigen, in diesem Fall konzeptuell geprägten Einsatz von "FotoGrafik".

Eine ihrer wichtigen Funktionen ist zudem, so Schalhorn, das Dokumentieren und mediale Erweitern von Werken und Projekten. Als Beispiel lässt sich das den Katalog zierende Blatt "Rentierkopf" von Carsten Höller nennen, das 2010 anlässlich seiner Berliner Ausstellung "SOMA" erschien. Ergänzend sei hier erwähnt, dass Vermarktung von Kunst und der damit einhergehende finanzielle Gewinn auf diese Weise gefördert werden. Solchen "künstlerischen Begleitprojekten" stellt Schalhorn "unabhängige druckgrafische Werke" gegenüber, wie Simon Starlings "Archaeopteryx Lithographica" (2008), bei dem das "FotoGrafik"-Arbeiten immanente "semantische Wechselverhältnis zwischen Abbildung und Abdruck" zum zentralen, augenfälligen Thema wird (20).

Eberhard Havekost gehört zu den Künstlern, die selbst fotografieren und ihre Fotos vor dem Druck am Computer bearbeiten. Er steht hier exemplarisch für einen vorläufigen Höhepunkt in der Entwicklung der "FotoGrafik" im digitalen Zeitalter. Bei seinen Piezodrucken ist eine Unterscheidung zwischen Foto und Druckgrafik kaum mehr möglich. Die Umsetzung des digitalen Bildmaterials in das fertige Bild erfolgt mittels eines Tintenstrahldruckers. Ob ein so generiertes Bild als Foto oder als Druckgrafik gewertet wird, entscheidet der Künstler.

An Gerhard Richters "Kerze II" (1989) veranschaulicht Schalhorn abschließend das grundlegende Prinzip der "FotoGrafik", Abbilder von Abbildern zu schaffen. Richter malt das Foto einer Kerze ab, fotografiert das Gemälde und druckt das Foto. Diesem bis ins Unendliche fortsetzbaren Wechselspiel der Medien und der mit jedem weiteren Arbeitsschritt entstehenden neuen (Bild-)Realität setzt er schließlich dadurch ein Ende, dass er den Offsetdruck mit Farbe überrakelt und so zum Unikat macht.

Richter verbindet hier die Offsettechnik mit Malerei und verleiht damit der Darstellung eine greifbare, materielle Realität. Der Reiz liegt im ästhetischen Gegensatz der vereinten Medien. Diese Wirkung ist eine der spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten dieser Technik, die Hubertus Butin, ehemals Assistent Richters, in seinem Artikel "Eine 'Sünde wider den Geist der Druckgraphik'?" hervorhebt. Er stellt sich der apodiktischen Haltung entgegen, wonach der Offsetdruck, eine kostengünstige, auflagenstarke Reproduktion von Fotografie, als unpersönliche und nicht originale Technik abzulehnen ist. [2] Butin plädiert dafür, nicht die Technik als solche zu beurteilen, sondern die Art ihrer künstlerischen Anwendung. So lässt sich mit dem Offsetdruck manipulierte Fotografie reproduzieren, wodurch - da Fotografie als realitätsabbildend gilt - Unmögliches als vermeintlich real gezeigt und Sehgewohnheiten in Frage gestellt werden können. Zudem lassen sich mit Offsetdruck nicht nur die Motive, sondern auch die zufälligen Spuren ihrer fotografischen Entstehung wie Solarisationen oder Kratzer vervielfältigen. Die Merkmale der Produktionstechnik einer Bildvorlage können als integraler Bestandteil des neuen Bildes stehen bleiben. Dies ist auch der Fall in Sigmar Polkes Offsetdruck "Freundinnen" (1967), entstanden nach der Vorlage einer Zeitungsabbildung, deren Rasterpunkte der Künstler deutlich hervorhebt. Die vergrößerte Rasterung - in den 1960er-Jahren nachgerade ein künstlerischer Topos - verunklärt das Motiv bis hin zur Auflösung. So wird mittels des Offsetdrucks die illusionistische Konstruiertheit massenmedial verbreiteter Bilder verdeutlicht, aber auch die Eigenwertigkeit der bildnerischen Mittel und ihre unendliche Reproduzierbarkeit demonstriert.

In unterschiedlich stark ausgeprägten, dialektischen Versatzspielen der Medien werden Techniken inszeniert und das Reproduktive medienreflexiv thematisiert. Butin führt diesen Punkt am Bespiel des Offsets aus, doch gilt er grundsätzlich für Werke der "FotoGrafik". Schalhorn benennt dieses Prinzip an verschiedenen Beispielen, doch verlangt es, eben weil es so vielen Arbeiten immanent ist, noch ausführlichere Erörterung. Auch würde man gerne mehr über die unterschiedlichen Techniken, mit der die von ihm benannten Bildstrategien erzeugt werden, und deren inhaltliche Implikationen erfahren. Doch beleuchtet Schalhorn viele wichtige Aspekte der "FotoGrafik" und bietet einen guten Überblick über ihre mannigfachen, unendlich variantenreichen und daher schwer zu ordnenden Ausprägungen. Es wird deutlich, dass sich zahlreiche Künstler unterschiedlicher Nationalitäten mit "FotoGrafik" beschäftigten und nach wie vor beschäftigen. Vor dem Hintergrund eines aktuellen Druckgrafik-Revivals [3] lenkt der Katalog die Aufmerksamkeit auf diese spezielle Facette druckgrafischer Kunst und ermöglicht dem Leser den Einstieg in die komplexe Thematik. Dazu trägt ein abschließendes Glossar, in dem neben den klassischen Drucktechniken auch neuere, vor allem digitale Verfahren erläutert werden, wesentlich bei.


Anmerkungen:

[1] Die Ausstellung wird vom 18. Februar bis 27. Mai 2012 in der Galerie Stihl Waiblingen zu sehen sein.

[2] Butin zitiert Wolf Stubbe, den langjährigern Leiter des Kupferstichkabinetts der Hamburger Kunsthalle, der vom Offsetdruck als einer "Sünde wider den Geist der Graphik [sic]" spricht (47).

[3] Die Zeitschrift "art" widmete den Leitartikel ihrer jüngsten Ausgabe (Dezember 2011) dem neu erwachten Interesse an Druckgrafik, welches demnach vor allem bei jungen Künstlern und speziell an ostdeutschen Kunsthochschulen feststellbar ist.


Elisabeth Furtwängler

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Empfohlene Zitierweise:

Elisabeth Furtwängler: Rezension von: Andreas Schalhorn: (Hg.) Neue Realitäten. FotoGrafik von Warhol bis Havekost, Köln: Wienand 2011
in: KUNSTFORM 13 (2012), Nr. 1,

Rezension von:

Elisabeth Furtwängler
Institut für Kunstgeschichte, Universität Leipzig

Redaktionelle Betreuung:

Sigrid Ruby