Rezension

Werner Busch / Oliver Jehle / Bernhard Maaz: (Hgg.) Ähnlichkeit und Entstellung. Entgrenzungstendenzen des Porträts, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010, 239 S., ISBN 978-3-422-06703-5, 39.90 EUR
Buchcover von Ähnlichkeit und Entstellung
rezensiert von Claudia Postel, Hamburg

Was ist ein Porträt? Wie groß muss die Ähnlichkeit mit der dargestellten Person sein und was spiegelt die Ähnlichkeit einer Person wider, das Äußere oder der Charakter? Der vorliegende Tagungsband "Ähnlichkeit und Entstellung. Entgrenzungstendenzen des Porträts" definiert die Eckwerte einer Gattung neu und stellt dabei auch Grundsätzliches in Frage. Untergliedert in zwei Teile versammelt die Publikation Beiträge, die einen Zeitraum von fast 500 Jahren umfassen.

Der erste Teil ist den Intentionen von Entstellung und Ähnlichkeit in Hinblick auf die Annäherung an das dargestellte Subjekt gewidmet und spannt zugleich chronologisch den Bogen von Tizian zu Manet. Hieran schließt zeitlich der zweite Teil an, der sich - wenn auch nicht allein - mit den Grenzen der Gattung Porträt auseinandersetzt. Von der Seelenlandschaft Böcklins bis hin zu den konstruktiven Porträts Imi Knoebels sind dabei eine ganze Reihe von Kunstwerken versammelt, die nicht auf den ersten Blick als Porträts erkennbar sind. Mit den Arbeiten Franz Gertschs schließlich wird ein Künstler vorgestellt, der mit an das fotografische Medium angelehnter Präzision eine ganze Serie von Bildern der Musikerin Patty Smith malte und dabei, so die These des Autoren Peter Geimer, doch vielmehr eine Medienkritik - ein gemaltes "Porträt der Fotografie" - betreibt, als das Wesen der Dargestellten zeigen zu wollen (221).

Der Titel der Publikation geht zurück auf ein Zitat von Walter Benjamin, das eine Situation als Kind beim Fotografen schildert, "entstellt von Ähnlichkeit" zwischen Alpenprospekt und Gemsbarthütlein (9). Das Thema von Ähnlichkeit und Entstellung ist facettenreich: Inwieweit zeigen Attribute den Charakter einer Person oder können sie ihrer selbst sogar entfremden? Wo besteht der Wunsch nach Idealisierung? Ist die Darstellung von Krankheit negativ oder wird sie sogar als besonders ähnlich akzeptiert wie im Fall der Porträtbüste Davids von François Rude, die den Künstler mit durch ein Geschwür geschwollener Lippe zeigt und mehrfach kopiert wurde (80)? Die Auffassung, wie viel Idealisierung dem Porträt und der Person des Dargestellten zuträglich bzw. wie viel Natürlichkeit notwendig ist, hat sich im Lauf der Jahrhunderte zum Teil entscheidend gewandelt: Während Marianne Koos in Tizians Darstellung der Laura de Dianti eine versteckte Kritik des Künstlers an der Person der Dianti sieht, da er Schminke im Gesicht der Dargestellten so offensichtlich male, dass sie als solche erkennbar sei (20), thematisiert Mechthild Fend, die bereits verschiedentlich zur Hautdarstellung in der Kunst publiziert hat, in ihrem Beitrag die marmorne Opakheit der Haut in Ingres' Frauenporträts als Mittel der Idealisierung zur Annäherung an die Historienmalerei (94f.).

Zahlreiche Aufsätze geben einen Eindruck von der Tiefe und Weite des Themas, oft profitiert der Leser von dem fundierten Hintergrundwissen der Autoren, die ihre Forschungsgebiete mit ihrem Beitrag vielfach nur anreißen. Unter den zahlreichen sich am individuellen Bild ausrichtenden Diskursen stellt der Beitrag von Claudia Schmölders zur "Augenhöhe" eine Ausnahme dar: Sie hebt das Porträtthema auf eine übergeordnete Ebene und diskutiert soziale Bedeutung und Wahrnehmung von Porträtsituation und Hängung für Dargestellten, Künstler und Betrachter. Der Beitrag stellt schon allein wegen der Frage, inwieweit lebendige, interagierende Individuen im Medium Porträt abbildbar sind, das Postulat der Porträtähnlichkeit grundsätzlich in Frage. Ein bedenkenswerter Ansatz, den Schmölders leider zum Teil mit spekulativen Aussagen begründet: Annahmen wie "Könige und Päpste unterhalten sich nicht unbedingt mit ihren Hofmalern" (171) sind problematisch und wahrscheinlich auch nur schwer belegbar.

Die Debatte um eine fotografische Ähnlichkeit versus einer Idealisierung ist in der Kunstgeschichte ein bekanntes Thema: Bereits 1806 plädiert Carl Ludwig Fernows in seiner in Zürich erschienenen Abhandlung über das Kunstschöne für eine Idealisierung des Porträts und Rudolf Preimesberger schreibt 1999 im Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Publikation, in der sich auch das Fernow-Zitat findet: "Gerade die Ähnlichkeit mit dem Porträtierten ist es, die der Präsenzbehauptung des Porträts den besonderen Nachdruck verleiht." [1] Im 2007 erschienenen Katalog "Portraits publics portraits privés 1770-1830" der Galeries nationales du Grand Palais in Paris nimmt die Frage nach dem Ideal ein ganzes Kapitel ein. [2] Was schließlich ist ähnlich, was "entstellend"? Der Tagungsband stellt die Darstellung von Krankheit und Missbildung, sonst auch im Kontext eines "Anderen" oder "Fremden" diskutiert [3], anhand der Beispiele Davids und Corinths in den Kontext einer äußeren und inneren Ähnlichkeit. Das ermöglicht - besonders in der Gegenüberstellung mit der marmornen Idealisierung weiblicher Schönheit bei Ingres - einen differenzierten Blick auf dieses Thema.

Trotz der chronologischen Anordnung will der Band ausdrücklich keine "Entwicklungsgeschichte der Entgrenzung" abbilden, sondern sich mit den "grundlegenden Transformationen" beschäftigen, welche die Gattung Porträt bis heute erfahren hat (11). Das große Zeitspektrum der Tagung eröffnet neue Vergleichsmöglichkeiten. Die Frage nach der natürlichen Hautfarbe bei Frauenporträts scheint durch die Jahrhunderte immer wieder gestellt worden zu sein - mit unterschiedlichem Ergebnis. Gerade der Jahrhunderte übergreifende Ansatz lässt Parallelen erkennen und hinter vorgeblichen Ähnlichkeiten künstlerischer Methode unterschiedliche Intentionen aufscheinen. Ist doch die Schönfärberei eines übertrieben ebenmäßig geschminktem Teints der Laura de Dianti Tizians anscheinend ebenso auf Kritik gestoßen wie Rousseaus literarische Selbstinszenierung, die von Heine bald 300 Jahre nach Tizians Porträt der Dianti als Lüge entlarvt wird (81).

Schließlich zeigt die Publikation nicht nur die grundlegenden Transformationen, die ja nicht allein die Gattung Porträt über einen solchen Zeitraum betreffen, sondern sich in allen Bereichen der Kunst manifestierten. Doch bietet das Nebeneinander der Jahrhunderte zugleich die Möglichkeit, in vorgeblich äußerst unterschiedlichen Porträtformen Ähnlichkeiten zu erkennen. Geht es doch letztlich innerhalb des durch den Titel bestimmten Rahmens immer wieder darum, als was der Dargestellte erfasst werden soll: als Summe seiner äußeren Merkmale oder als Bild seines Charakters.


Anmerkungen:

[1] Zitiert in: Porträt, hg. von Rudolf Preimesberger / Hannah Baader / Nicola Suthor: Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Berlin 1999, Fußnote 2, 391f. und Marcia Pointon: Hanging the Head. Portraiture and Social Formation in Eighteenth-Century England, New Haven / London 1993, 48 und 19.

[2] Sébastien Allard / Guilhem Scherf (éds.): Portraits publics, portraits privés 1770-1830, Editions de la Réunion des Musées Nationaux, Paris 2006, 202-321.

[3] Zum Beispiel: Ulrike Klöppel: Wundersame Wesen - Grenzgestalten des Menschlichen, in: Annemarie Hürlimann u.a. (Hgg.): Fremdkörper - fremde Körper: von unvermeidlichen Kontakten und widerstreitenden Gefühlen, Ostfildern-Ruit 1999, 153ff.


Claudia Postel

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Claudia Postel: Rezension von: Werner Busch / Oliver Jehle / Bernhard Maaz: (Hgg.) Ähnlichkeit und Entstellung. Entgrenzungstendenzen des Porträts, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2010
in: KUNSTFORM 12 (2011), Nr. 9,

Rezension von:

Claudia Postel
Hamburg

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle