Rezension

Roger Diederen / Davy Depelchin: Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky, München: Hirmer 2010, 311 S., ISBN 978-3-7774-3251-9, 39.90 EUR
Buchcover von Orientalismus in Europa
rezensiert von Ekaterini Kepetzis, Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Zu der vor wenigen Wochen zu Ende gegangenen Ausstellung der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung hat Hirmer einen prachtvoll bebilderten Katalog publiziert, der die außerordentliche malerische Qualität der hier präsentierten "orientalistischen" europäischen Gemälde des "langen" 19. Jahrhunderts (1789-1914) zumindest erahnen lässt. Die Ausstellung schließe, wie Christiane Lange, Direktorin der Kunsthalle, in ihrem Vorwort schreibt, an so bedeutende Unternehmungen wie die 1984 in London ausgerichtete Schau The Orientalists. Delacroix to Matisse oder die 1989 in Berlin gezeigte Ausstellung Europa und der Orient, 800-1900 an (9) - große Vorbilder!

Statt eines gesonderten Katalogteils sind, wie in den letzten Jahren anscheinend üblich geworden, die in der Ausstellung präsentierten Objekte sowie Vergleichsabbildungen in 11 Aufsätze und den Anhang integriert. Die ersten beiden Texte von Roger Diederen und Davy Depelchin skizzieren anstelle einer Einführung das Faszinierende einer im 19. Jahrhundert näher gerückten Fremde, der man mit Neugier und Staunen begegnete, und die neue Themenfelder eröffnete. Seit dem Ägyptenfeldzug Napoleons - dessen nicht zu überschätzende Bedeutung für Kunst und Literatur der folgenden Jahrzehnte der Beitrag von Eugène Warmenbol rekapituliert - waren die bis in die Antike zurückreichenden Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zum "Morgenland" ausgebaut und das Transportwesen revolutioniert worden. "Der Orient" hielt in Lithografien, Panoramen und Fotografien Einzug in den westeuropäischen Alltag. Durch Reisen konnte diese in Literatur und Illustrationen generierte "Imaginäre Geographie" (89) mit der Realität konfrontiert werden - wie eine der Expertinnen für die Thematik, Christine Peltre [1], welche auch das Thema "Frauen im Orient" vorstellt, in ihrem konzisen Text nachweist. Neuerlich erweist sich die Diskrepanz zwischen der vorherigen Erwartung der Reisenden und des vor Ort Gefundenen als prekär und prägend für die Ästhetisierung des Erlebten. Dennoch: Wenn sich "Zimmerorientalisten" tatsächlich einmal auf den Weg machten, konnten sie Neues entdecken wie Luc Georgets spannender Beitrag zur Wüste als neuem Bildmotiv verdeutlicht.

Doch was ist das überhaupt: "der" Orient? Für Maler und Literaten jener Jahre begann er bisweilen bereits im maurischen Spanien, wie Robert Irwin in seinem Beitrag zeigt. Eine Definition des umstrittenen und sehr komplexen Begriffs bleibt der Katalog schuldig, dies ist vielleicht verständlich, gleichwohl enttäuschend. Die Zeitgenossen der hier vorgestellten Maler griffen auf den ursprünglich in der Philologie entwickelten Begriff zurück, um ihre häufig den Geschichten von 1001 Nacht entlehnten Projektionen zu charakterisieren. [2] Dort erscheint "der" Orient als von Haschischkonsumenten bevölkerter Harem, in welchem sich "Elemente von Exotismus, Lust und Gewalt" verbinden (Diederen, 177).

Dass diese zwischen Abwertung und Idealisierung changierende Mythisierung "des" Orients als Versinnbildlichung exotistischer Sehnsüchte letztlich bis auf Karl den Großen zurückreichen, wird leider nicht eigens thematisiert, sondern scheint lediglich in einzelnen Beiträgen zwischen den Zeilen auf. [3] Dies ist bedauerlich, denn der Leser erhält den Eindruck, die Begeisterung für das orientalische Andere sei recht plötzlich zum Ende des 18. Jahrhunderts erschienen. Dies zeigt sich z.B. angesichts der Visualisierungen vom Ende Kleopatras, die sich seit der Frühen Neuzeit besonderer Beliebtheit erfreuten: Die gezeigten Bildwerke sind eher Auseinandersetzungen mit der eigenen künstlerischen Vergangenheit als mit "dem" Orient (62, 66f.).

Diederens Beitrag "Über die Grenzen" thematisiert u.a. die Auseinandersetzung mit den Zusammenstößen zwischen Christentum und Islam, die spätestens seit dem griechischen Freiheitskampf immer wieder in Szene gesetzt und propagandistisch instrumentalisiert wurden (48-53). Dass gleichzeitig - im Bestreben nach historischer Wahrhaftigkeit und Authentizität - das zeitgenössische Palästina in Analogie zur Epoche der Bibel gesetzt wurde, skizziert der informative Text Jan de Honds und macht Lust auf mehr. Die Überblendung des Morgenlandes mit den Vorstellungen der antiken Welt beleuchtet wiederum Diederen in "Rom ist nicht mehr Rom". Auf solchen Projektionen basieren die neuen Authentifizierungstendenzen der mit der Fotografie konkurrierenden Malerei. Dass Themen und Blickwinkel bei den "Künstlern der Moderne im Orient" und ebenso die aus einer Position der Überlegenheit unternommene Reise auch im frühen 20. Jahrhundert weitgehend konstant blieben, beleuchtet Roger Benjamins abschließender Überblick.

Am Ende des Buches folgt einer von Delpechin erstellten, sehr umfangreichen und bebilderten "Chronologie" des Orientalismus im Betrachtungszeitraum (228-271) - ein hilfreiches Instrument der Einordnung des Gezeigten - der Anmerkungsapparat, ein Verzeichnis der ausgestellten Werke mit technischen Angaben und Verweisen auf die Abbildung im Text sowie eine knappe Auswahlbibliografie. Ein Index fehlt leider.

Das Buch lässt den Leser merkwürdig zwiegespalten zurück. Auf den ersten Blick wohltuend ist der weitgehende Verzicht auf die bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema mittlerweile eingebürgerte enge "postkoloniale" Perspektive, die - allzu oft in das entsprechend dekonstruktivistische Vokabular gekleidet - hinter der political correctness der heutigen Interpretation nicht nur die historische Einordnung vermissen lässt, sondern insbesondere die kunsthistorische Kontextualisierung der Kunstwerke schuldig bleibt.

Allerdings wird die "Diskussion des Orientalismus" im Katalog nur auf Seite 272 abgehandelt und ohne Autorennamen und im Inhaltsverzeichnis nicht gesondert aufgeführt. Dies ist zu wenig. Knapp wird Edward Saids Orientalism vorgestellt, eine - als solche auch offen gelegte - polemische und in weiten Teilen ahistorische Abrechnung mit den stereotypischen Orientvorstellungen "des Westens", welche lediglich koloniale Bestrebungen kaschierten. [4] Das auf dem Cover der Originalausgabe prangende Detail von Jean-Léon Gérômes Schlangenbeschwörer inspiriert Linda Nochlin zu ihrem Essay The imaginary Orient, in welchem sie forderte, orientalistische Malerei nicht als ästhetisches Phänomen, sondern primär im Zusammenhang mit der europäischen kolonialen Expansion zu deuten. [5] Ergebnis solcher Überlegungen in Deutschland ist z.B. das von Viktoria Schmidt-Linsenhoff geleitete Graduiertenkolleg Identität und Differenz in Trier.

In den letzen Jahren erfolgte eine kritische Durchleuchtung von Saids Thesen und den in deren Zugwasser publizierten Arbeiten. Hier erwähnt der Katalog (17, 272) zu Recht John MacKenzies bahnbrechende Studie Orientalism. Dieser erkennt in den polemischen Interpretationen die "[...] the susceptibilities of the late twentieth century applied to nineteenth century art" und kritisiert: "we find moral condemnation befogging intellectual clarity and at times negating the essential characteristics of the critical faculty; and we find an entire epoch condemned out of hand as though historical ages themselves can be divided into 'goodies' and 'baddies'." [6]

Dies alles wird skizziert, jedoch bezieht der Katalog nicht explizit Stellung. Das Fehlen einer eigentlichen, kritischen Einleitung, die eben auch Forschungsgeschichte reflektiert, ist daher umso mehr zu bedauern. Es bleibt ein merkwürdiger Eindruck bemühter Neutralität. Ob es einen "unschuldigen Blick" im Orientalismus gab, ist vielleicht zu bezweifeln, zweifelsohne aber muss darüber debattiert werden. Gerade der weitgehende Verzicht auf eine solche Auseinandersetzung führt nämlich dazu, dass beispielsweise Peter Benson Millers Katalogbeitrag "Wissenschaftlicher Orientalismus?", der sich stellenweise des Vokabulars des 19. Jahrhunderts zu bedienen scheint, einen unangenehmen Beigeschmack hat, der sicher weder vom Autor noch von den Machern gewollt ist.

Für den interessierten Laien also ein weiterer Bildband zum Thema [7], für die Fachwelt sind die Problemfelder des Orientalismus - trotz einiger interessanter Fragestellungen, die hier angerissen werden - nicht konsequent genug dargelegt.


Anmerkungen:

[1] u.a.: Christine Peltre: L'atelier du voyage. Les peintres en Orient au XIXe siècle, Paris 1995; dies.: Orientalism, Paris 2004.

[2] In der Literaturliste fehlt die spannende Studie Scholz, Piotr O.: Die Sehnsucht nach Tausendundeiner Nacht: Begegnung von Orient und Okzident, Stuttgart 2002.

[3] Dazu bes. Gereon Sievernich / Hendrik Budde (Hgg.): Europa und der Orient 800-1900, Ausst.-Kat. Berlin, Martin-Gropius-Bau, 1989.

[4] Edward W. Said: Orientalism, New York 1978.

[5] Linda Nochlin: The Imaginary Orient, in: Art in America 1983, 118-131, 187-191. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Valenz dieses Ansatzes bei Ibn Warraq: Linda Nochlin and The Imaginary Orient, in: New English Review Juni 2010: URL: http://www.newenglishreview.org/custpage.cfm/frm/65193/sec_id/65193 (29.06.2011).

[6] John M. MacKenzie: Orientalism. History, Theory and the Arts. Manchester 1995, hier XVII. Vgl. bes. 1-19 (zu Saids "Orientalism") und 20-42 (zu "Culture and Imperialism").

[7] Gérard-Georges Lemaire: Orientalismus. Das Bild des Morgenlandes in der Malerei, Köln 2000.


Ekaterini Kepetzis

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Empfohlene Zitierweise:

Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Roger Diederen / Davy Depelchin: Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky, München: Hirmer 2010
in: KUNSTFORM 12 (2011), Nr. 7,

Rezension von:

Ekaterini Kepetzis
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Redaktionelle Betreuung:

Stefanie Lieb