Rezension

Robert Hariman / John Louis Lucaites: No Caption Needed. Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy, Chicago: University of Chicago Press 2011, ISBN 978-0-226-31612-3, 14.50 GBP
Buchcover von No Caption Needed
rezensiert von Olaf Stieglitz, Universität zu Köln

Welche Rollen spielt Fotojournalismus in demokratischen Gesellschaften, welche Bedeutungen haben Fotografien in auflagenstarken Magazinen oder anderen populären Foren in den Aushandlungsprozessen um das gesellschaftliche Selbstverständnis der USA? Welchen Veränderungen war der Umgang mit weit verbreiteten, sehr bekannten Bildern im Verlauf des 20. Jahrhunderts unterworfen und welche neuerlichen Verschiebungen entstanden etwa durch die Anschläge vom 11. September 2001 oder durch das Internet als einem neuen Medium? Diese Fragen liegen dem erstmals 2007 veröffentlichten Band der beiden Kommunikationswissenschaftler Robert Hariman und John Louis Lucaites zu Grunde, der nun auch in einer Taschenbuchausgabe erschienen ist und der seit einiger Zeit ebenfalls als Blog im Internet zu regen Debatten auffordert (http://www.nocaptionneeded.com).

Um Antworten zu finden, analysieren die beiden Autoren in No Caption Needed eine Reihe ikonischer Pressefotografien des 20. Jahrhunderts, die in der Tat inzwischen keines Bildtitels mehr bedürfen, weil sie Teil des kollektiven Gedächtnisses (mindestens) der USA geworden sind: Migrant Mother (1936, Dorothea Lange); Times Square Kiss (1945, Alfred Eisenstaedt); Raising the Flag on Mount Suribachi (1945, Joe Rosenthal); Kent State University Massacre (1970, John Filo); Accidental Napalm (1972, Nick Ut); Tiananmen Square (1989, Stuart Franklin); sowie aufeinander bezogen Explosion of the Hindenburg (1937, Sam Shere) und Explosion of the Challenger (1986, NASA).

Die sechs Hauptkapitel des Buchs offerieren close readings der Bilder und berichten vor allem darüber, wie sie seit ihrer jeweiligen Veröffentlichung in öffentlichen Debatten immer wieder neu aufgegriffen, kanonisiert, gefeiert, aber auch umgedeutet, modifiziert oder parodiert worden sind. Hariman und Lucaites können dabei überzeugend deutlich machen, welch großen Anteil diese Fotos und ihre sich wandelnden Rezeptionen an zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den Vereinigten Staaten hatten, von Diskussionen zu Patriotismus und zivilem Ungehorsam über Fragen von Armut und sozialer Gerechtigkeit bis zu Konflikten über den Ausbau oder die Begrenzung der US-Militärmacht im Ausland.

Vor den Augen der Leserinnen und Leser arrangieren die beiden Autoren mit den Fotos und ihren Analysen eine Art slide show des politischen Wandels in den USA zwischen dem Beginn der Weltwirtschaftskrise und dem Ende des Kalten Krieges.

Hariman und Lucaites vertreten die These: "photojournalism is an important technology of liberal-democratic citizenship" (18). Von dieser Prämisse ausgehend verfolgen sie im Wesentlichen zwei verschiedene Anliegen. Zum einen wollen sie dokumentarische Fotografie und den akademischen Umgang mit ihr wieder aufwerten, beides hätte in den Theoriedebatten seit den 1970er-Jahren zu Unrecht an Stellenwert verloren. Fotojournalismus ist in ihren Augen mithin aktives politisches Engagement, das auch als solches zu würdigen sei. Darüber hinaus versuchen die beiden Autoren in kritischer Absicht zu zeigen, dass sich die politische Grundausrichtung der behandelten fotografischen Werke im Laufe der Zeit geändert habe: "This shift is not from positive to negative images, or from patriotism to protest, or from consensus to fragmentation [...] The more fundamental shift is from liberal democracy to democratic liberalism [...]" (18f.). Während ältere Bilder wie Migrant Mother in erster Linie für Individualität in Gemeinschaft stünden, so Hariman und Lucaites, würden neue ikonische Fotos wie das des protestierenden chinesischen Studenten vor dem Rohr des heranrückenden Panzers das Individuum aus der Gemeinschaft herausheben: "[T]he icons of U.S. public culture increasingly underwrite liberalism more than they do democracy, and we believe this imbalance threatens progressive social and economic policies and ultimately democracy itself." (19)

Man kann den methodischen Ansatz der beiden Autoren sicher grundsätzlich anzweifeln: Warum stehen Fotoikonen im Zentrum des Interesses, muss ihre Omnipräsenz und Popularität nicht beinahe zwangsläufig zu eher affirmativen Aneignungsformen führen? Sollte man der normativen Vorstellung einer rationalen Debatte mit Bildern innerhalb von Demokratien nicht eher eine distanziertere Machtanalyse entgegensetzen, welche vielmehr die produktive Verwobenheit der Bilder, ihrer Repräsentationen und Aneignungen mit umlaufenden Diskursen in den Blick nimmt? Darüber hinaus ließe sich auch die Auswahl der Bilder selbst kritisieren: Warum Tiananmen Square, aber keines der Holocaust-Fotos, die spätestens ab Mitte der 1970er-Jahre für eine große Zahl von US-Amerikanern und Amerikanerinnen identitätspolitisch immens wichtig wurden und dabei Vorstellungen von Gemeinschaft ohne Zweifel mitprägten? Auch würde man sich wünschen, mehr Abbildungen von den zahlreichen im Buch angesprochenen und vorgestellten Aneignungen und Verwendungsformen der Fotos (Werbegrafiken, Kunst, Alltagsgegenstände, T-Shirts oder Aufkleber) zu sehen, die oft erst Jahrzehnte nach dem Original entstanden sind und welche, folgt man der Argumentation von Hariman und Lucaites, die Dynamik der politischen Debatten überhaupt erst deutlich machen.

Obwohl die Anschläge selbst nur am Rande angesprochen werden, ist No Caption Needed ein post-9/11 Buch, das wird spätestens dann deutlich, wenn man den Blog und die dort geposteten Bilder und Texte mit berücksichtigt. Und dieses Charakteristikum macht auch den Wert des Beitrags letztlich aus. Hariman und Lucaites begreifen Fotojournalismus als demokratische Praxis, und sie und die User ihres Blogs verorten ihre Analysen und die von ihnen selbst produzierten Bilder in einer Gegenwartskultur, in der das Visuelle und die Auseinandersetzung damit gegenüber Texten immer wichtiger werden. No Caption Needed - das Buch wie der Blog - sind daher selbst Bestandteile der gegenwärtigen Bilderpolitiken in den Vereinigten Staaten, in denen dem Medium der Fotografie und seiner Verbreitung (gerade im Internet) eine bedeutende Aufgabe beim Management einer Kultur zukommt, die sich zunehmend als krisenhaft, "verwundet" und ohne Perspektive wahrnimmt.


Olaf Stieglitz

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Empfohlene Zitierweise:

Olaf Stieglitz: Rezension von: Robert Hariman / John Louis Lucaites: No Caption Needed. Iconic Photographs, Public Culture, and Liberal Democracy, Chicago: University of Chicago Press 2011
in: KUNSTFORM 12 (2011), Nr. 12,

Rezension von:

Olaf Stieglitz
Universität zu Köln

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle