Rezension

Nathalie Bredella: Architekturen des Zuschauens. Imaginäre und reale Räume im Film, Bielefeld: transcript 2009, 182 S., ISBN 978-3-8376-1243-1, 25.80 EUR
Buchcover von Architekturen des Zuschauens
rezensiert von Chris Dähne, Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Die Architektur im Film ist Thema zahlreicher film- und kunsthistorischer Abhandlungen wie auch historischer und soziologischer Studien. In bisherigen film- und medienwissenschaftlichen Untersuchungen ist es nur vereinzelt gelungen, die Raum-respektive Bildproduktion in Film und Architektur gleichberechtigt zu beleuchten.

Im Vergleich zum Film entwirft die Architektur reale Räume, in denen wir körperlich handeln können und die physisch erlebbar sind. Die Räume des Films, aber auch der Bühne hingegen bleiben imaginär und bieten immer nur eine Darstellung von Wirklichkeit, wie es der Titel von Nathalie Bredellas Dissertation "Architekturen des Zuschauens" andeutet. Doch zugleich stellen neue Technologien wie das Internet die Dichotomie von Realität und Darstellung radikal in Frage. Die sich daraus ergebende Problematik ist das Thema von Bredellas Buch. Die Arbeit eröffnet einen medienübergreifenden Diskurs, der eine Antwort auf die Frage zu finden versucht, ob die neuen Medien die Differenz zwischen realen und imaginären Räumen aufzuheben vermögen.

Bredellas fächerübergreifende Ausführungen gehen dieser Problematik am Beispiel der Raumproduktion im Backstage-Film nach, der die realen Räume hinter der Bühne (Backstage) und die imaginierten Räume auf den Bühnen (Stage) des glamourösen Time Square im New York der 1930er- und 1940er-Jahre abbildet. Es werden Philosophen und Kritiker aus Vergangenheit und Gegenwart (Benjamin und Kracauer, aber auch Früchtl und Seel), Filmregisseure (Eisenstein), Architektur- und Bildtheoretiker (Vidler und Wiesing) herangezogen, um die Thesen auf einer fundierten Basis entwickeln zu können.

Der Band gliedert sich in sechs Hauptabschnitte, die sowohl übergeordnete Begriffe und Konzepte differenter Raumwahrnehmungen vorstellen, als auch architekturgeschichtliche Vertiefungspunkte in den Blickpunkt rücken. Beide Aspekte durchdringen den Hauptteil der Arbeit, in dem die imaginären und realen Räume ausgewählter Backstage-Filme interpretiert werden. Denn das besondere an diesen Filmen liegt in ihrer zweigeteilten Struktur von Backstage-Handlung, die regional und global die Show in den Kontext der Unterhaltungsindustrie und des Ortes "Time Square" ansiedelt, und Musical-Nummern, die sich lokal auf den gestalteten Raum der Bühne begrenzen und banale Alltagsvorgänge illustrieren. Da beide thematisierten Räume der Inszenierung mit architektonischen und filmischen Mitteln unterliegen, kommt es zur Simultanität, gar Immersion von realem Geschehen im Backstage-Bereich und imaginärem Geschehen auf der Bühne (Stage), und zwar indem dieses Geschehen auf der Bühne im Backstage-Bereich erdacht und verhandelt wird. Diese Überlagerungen eröffnen ein breites inhaltliches Spektrum, das Bredella im Hauptteil des Bandes detailliert und spannend beschreibt.

Da sich die "Architekturen des Zuschauens" an einem realen Ort - dem Kino, befinden, scheinen die Ausführungen zu dessen architekturgeschichtlicher Entwicklung im Zusammenhang mit gesellschaftlichen, kulturellen, aber auch stadträumlichen Veränderungen unerlässlich. Neben dem an sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts visuell und akustisch dynamisierten Erleben von Stadtraum wurden mit den Kinopalästen und deren Vorstufen, den Nickelodeons, Unterhaltungsräume für die Masse als architektonische "Dream Worlds" entworfen. Auf ihre Leinwände werden illusionäre Räume projiziert, die in der Gestalt medialisierter Fassaden und freitragender Vordächer in den realen Stadtraum eindringen, der dadurch wie ein Bühnenraum erfahren wird. So wird eine ähnliche Verschränkung realer und imaginärer Welten wie in den Backstage-Filmen demonstriert. In beiden Fällen wird der Zuschauer in eine Welt des modernen Konsums entführt, und die genannten Verschränkungen werden bei Bredella zum Gegenstand architektonischer Filmbetrachtungen. Die sehr ausführlichen und treffsicheren Interpretationen zu den Filmen Gold Diggers of 1933 (1933) oder auch The Great Ziegfeld (1936) sind leider inhaltlich etwas zu voraussetzungsreich vorgenommen, was die Nachvollziehbarkeit der Ausführungen und filmischen Zuordnungen teilweise nur schwer zulässt. Entsprechend der gewählten Filmwerke werden Innenräume (Bühnen, Apartments, Warenhäuser) oder die diese gestaltenden Elemente (Treppen und Schaufenster) zu Untersuchungsgegenständen, denen die zu dieser Zeit konzipierten Entwürfe und architektonischen Umsetzungen wie Bühnen- und Schaufenstergestaltungen der Architekten Joseph Urban und Frederick Kiesler gegenüber gestellt werden. Mit diesen Beispielen wird die Beziehung zwischen den beiden Raumkünsten Film und Architektur, besonders im Exkurs zum Thema Warenhäuser, belegt. Ähnlich wie die Konsumstätten trägt der Film mit seinen zur Schau gestellten Materialien wie Kleidungen und Fassaden, die in dem Band mit authentischen Illustrationen sogenannter "press-books" sichtbar werden, zur Entwicklung einer Konsumkultur bei.

Die architektonische Raumgestaltung und die filmische Raumerschließung aufgrund von Blickinszenierung oder Parallelmontage konstruieren zwischen zwei- und dreidimensionaler Darstellung oszillierende, imaginäre Räume. Ihre Inszenierungen werden atmosphärisch durch Licht und Kontraste, aber auch Musik, die hier leider nur als Randnotiz auftaucht, effektvoll ergänzt.

Aus Sicht des Filmbetrachters erzeugen hauptsächlich die filmischen Mittel die Übergänge respektive Beziehungen zwischen den realen und imaginären (Film)Räumen. [1] Inwieweit es den Medien, hier dem (Backstage-)Film, gelingt, in die Praxis der Architektur so einzugreifen, dass die Grenzen beider Räume durchlässig erscheinen und eine klare Trennung der "Architekturen des Zuschauens" unmöglich wird, betrachtet der abschließende Teil der Arbeit.

Hier gibt die Autorin einen Einblick in die aktuelle Diskussion zu virtuellen Räumen. In ihnen, so betont die neue Medientheorie, kommt es zur Aufhebung der Differenz zwischen realen und imaginären Räumen, in denen wir zwischen Wirklichem und Virtuellem leben. Eine Aufhebung, die zur Entstehung simulierter Räume führt und die wir nur visuell, aber nicht physisch und haptisch wahrnehmen. Wie Bredella unter anderem mit der Interpretation von Ziegfeld Girl (1941) zeigt, "strahlen unsere Vorstellungen [...] in die Realität aus [...] und [verändern] somit die realen Räume [...]." (152) Folglich wird die Unterscheidung dieser virtuellen Räume, die wir imaginär betreten und erfahren, schwieriger, die Räume selbst aber, die "Architekturen des Zuschauens", bleiben.

Wie schon das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierende Medium des Films, stellen auch die digitalen Medien und deren Anwendungsbereiche (Internet und Cyberspace) die etablierten Gattungsgrenzen in Frage und regen neuartige Architektur- und Raumkonzeptionen an. Das diese jedoch den Bezug zur Realität verlieren oder gar die Differenz zwischen realen und imaginären und virtuellen Welten einebnen könnten, bezweifelt die Autorin. Kritisch diskutiert und reflektiert liefert sie disziplinübergreifende Beobachtungen und Denkanstöße zum Thema Film und Architektur. Denn nur unter Berücksichtigung aller Medien, so appelliert Nathalie Bredella, wird eine Erweiterung und Reflexion unserer Raumerfahrung möglich (166).


Anmerkung:

[1] Angemerkt sei hier, dass die realen Räume des Backstage nur auf die Realität verweisen und durch die filmische Abbildung ebenso zweidimensional eingeebnet und konstruiert werden wie die imaginären Räume der Bühne.


Chris Dähne

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Empfohlene Zitierweise:

Chris Dähne: Rezension von: Nathalie Bredella: Architekturen des Zuschauens. Imaginäre und reale Räume im Film, Bielefeld: transcript 2009
in: KUNSTFORM 11 (2010), Nr. 5,

Rezension von:

Chris Dähne
Kunstgeschichtliches Institut, Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Redaktionelle Betreuung:

Henning Engelke