Rezension

Kerstin Wittmann-Englert: Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg: Josef Fink 2006, 224 S., ISBN 978-3-89870-263-8, 29.80 EUR
Buchcover von Zelt, Schiff und Wohnung
rezensiert von Stefanie Lieb, Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Keine Baugattung in der klassischen Architekturgeschichte der Moderne wird so unterschätzt wie die des Kirchenbaus. In sämtlichen Überblickswerken zur Architektur des 20. Jahrhunderts finden Kirchen nur rudimentär Erwähnung und wenn, dann ist es immer Le Corbusiers Wallfahrtskirche in Ronchamp, die als quasi "Alibi"-Sakralbau angeführt wird. Dabei entstand gerade in der Nachkriegszeit der 1950er- und 60er-Jahre in Europa und hier allen voran in (West)-Deutschland eine kaum überschaubare Menge herausragender Kirchengebäude, die eine Vielfalt an Materialeinsatz, Konstruktionstechniken und Formen aufweisen. Man könnte fast behaupten, dass die Architekten der Moderne besonders bei der Konzeption von Sakralbauten und -räumen ihre Gestaltungsfantasie und Experimentierfreude ausleben konnten. Denn Kirchen waren und sind bis in unsere Zeit Architekturen, die über die Funktion und den Zweck hinaus auf etwas "Anderes", das Sakrale, das Transzendente verweisen. Michel Foucault prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der "Heterotopie", des "anderen Raumes", der als realisierte Utopie in der Gesellschaft seinen Platz hat. [1]

Kerstin Wittmann-Englert hat dieses Charakteristische des Kirchenbaus der Nachkriegsmoderne zum Thema ihrer Habilitationsschrift gemacht und anhand der drei zentralen Assoziationsbilder wie dem Zelt, dem Schiff und der Wohnung systematisiert und analysiert. Mit diesem Ansatz wählte sie bewusst eine Vorgehensweise, die zwar in Anlehnung an Günter Bandmanns Theorie der architektonischen Form als Bedeutungsträger [2] laboriert, sich jedoch gleichzeitig durch die Modifizierung in das stärker Assoziative von dieser absetzt. Denn, so führt es die Autorin am Schluss ihrer Untersuchungen aus, das Zeichensystem der modernen Kirchen sei im Unterschied zu den mittelalterlichen Sakralbauten eher offen und subjektzentriert, d.h. es arbeite mit Assoziationen, die in der modernen säkularisierten Gesellschaft Befindlichkeiten und Stimmungen erwecken können (180). Damit formuliert Wittmann-Englert einen bedeutenden methodischen Ansatz, der für das Verständnis und die Bewertung von Nachkriegskirchen grundlegend ist. Wenn es überhaupt möglich sein sollte, das Spezifikum des modernen sakralen Raumes zu beschreiben, so wird es nur über die wirkungsästhetischen Parameter der Raumatmosphäre und über Assoziationsmuster erfolgen können.

Entsprechend den drei Assoziationsbildern ist das Buch gegliedert. Das Kapitel über das Bild des Zeltes als Leitform der Nachkriegskirchen nimmt den größten Rahmen ein, da diese Bau- und Raumvorstellung in ganz Europa bis zum Ende der 1960er- Jahre erstaunlich häufig rezipiert wurde. Nach einer Herleitung des Urtyps Zelt aus den biblischen Schriften fokussiert Kerstin Wittmann-Englert die Bedeutung des Zeltes auf die zeittypische Situation der Nachkriegsära und zitiert hier den Begriff des Theologen Egon Holthusen vom "unbehausten Menschen" (12). Die Menschheit galt besonders nach dem Zweiten Weltkrieg aus theologischer Sicht als obdachlos und auf der Wanderschaft. Für diese Gemeinden, die sich im Übrigen tatsächlich zu großen Teilen aus Kriegsflüchtlingen und Vertriebenen zusammensetzten, wurden neue Kirchengebäude in Form von Zelten errichtet. Die Autorin kann hier noch weiter differenzieren in Typen wie das Firstzelt, das Pyramiden- und Spitzzelt, Faltdächer sowie hängende Dächer und Schalen. Als bekannte Beispiele führt sie u.a. an Karl Bands Kirche Sankt Johannes Evangelist in Köln (1969) als Nur-Dach-Konstruktion, Sankt Peter auf Spiekeroog von Bunsmann und Scharf (1970) oder Sankt Pius in Krefeld von Lehmbrock und Polónyi (1966) mit einem Betondach aus Paraboloid-Schalen.

Das zweite Assoziationsbild des Schiffes oder der Arche ist zwar biblisch ebenso gut herzuleiten wie der Topos des Zeltes und taucht auch als Dampfermotiv in der Profanarchitektur der 1920er vielzählig auf (siehe den Exkurs, 91-96), scheint aber im Nachkriegskirchenbau nicht so ausgeprägt wie das Zelt eingesetzt worden zu sein. Wittmann-Englert argumentiert richtig, dass in diesem Fall wahrscheinlich die bereits zu starke Vereinnahmung durch die Profanarchitektur und der technizistische Habitus eine weitere Verbreitung im Sakralbau verhindert haben (90). Charakteristische Bauten der 1950er und 60er lassen sich jedoch auch hier zusammentragen: so Hans Schillings Kirche Neu-Sankt Alban in Köln (1958) oder Joachim Schürmanns Sankt Pius X. in Neuss (1965) mit ihren schiffsbugartig vorstoßenden Apsidenräumen, aber auch evangelische Gemeindezentren der 1960er-Jahre, die bezeichnenderweise den Begriff "Arche" in ihrem Namen tragen (103-110).

Letztere Sakralbautypen leiten über zu dem dritten Assoziationsbild der "Wohnung", das etwas problematisch ist, da es den gesamten Bereich der Gemeindezentren beider Konfessionen aus den 1960ern bis in die 1970er-Jahre abdecken muss. Die Autorin ist sich jedoch der Schwierigkeit dieser Einordnung bewusst und stellt an den Anfang des Kapitels eine Zusammenfassung der Entsakralisierungsdebatte der Zeit, bei der ausgehend von Dietrich Bonhoeffers Forderung nach Aufhebung der Trennung zwischen sakral und profan die Profanierung von Sakralbauten gefordert und auch umgesetzt wurde (115-125). Diese Tendenz führte zu Multifunktionseinrichtungen wie Helmut Strifflers Gemeindezentrum in Mainz-Bretzenheim (1973) oder den Ladenkirchen in Berlin aus den 1960er-Jahren (157). Der Ausblick allerdings in die 1980er-Jahre belegt eine entgegengesetzte Entwicklung wieder hin zur stärkeren sakralen Konnotation der kirchlichen Räume. Nach Wittmann-Englerts Analyse scheint das Projekt der "entsakralisierten" Form im Kirchenbau der 1960er- und 70er-Jahre gescheitert zu sein (167-171).

Das vorliegende Buch über den Nachkriegskirchenbau ist die erste Beschäftigung mit dieser Materie im Hinblick auf die Assoziationsbilder dieser Baugattung mit den damit verbundenen Konstruktions-, Form- und Raumexperimenten. Es ist schon jetzt, nicht zuletzt auch aufgrund des hervorragenden Abbildungsmaterials mit entsprechenden Grundrissen, ein Grundlagenwerk und Handbuch für jede Beschäftigung mit dem modernen Kirchenbau der 1950er- bis 70er-Jahre, der erst jetzt so richtig ins Rampenlicht der modernen Architekturgeschichte vorrückt.


Anmerkungen:

[1] Michel Foucault: Andere Räume, in: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien, hg. von Jan Engelmann, Stuttgart 1999, 145-157.

[2] Günter Bandmann: Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951 [Berlin 71981].


Stefanie Lieb

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in: KUNSTFORM 11 (2010), Nr. 1,

Rezension von:

Stefanie Lieb
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Redaktionelle Betreuung:

Ekaterini Kepetzis