Rezension

Christa Blümlinger: Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin: Vorwerk 8 2009, 288 S., ISBN 978-3-940384-09-6, 24.00 EUR
Buchcover von Kino aus zweiter Hand
rezensiert von Nina Lindemeyer, Universität Basel

Die selbstreflexive Verwendung von gefundenen Materialien und Inhalten ist ein künstlerisches Vorgehen, das seine Wurzeln in der Moderne hat: Die Collagen der Kubisten und Dadaisten, das Ready-made Marcel Duchamps und die objets trouvés der Surrealisten sind Vorläufer heutiger Praktiken der Sammlung, Neukontextualisierung und Kompilation von Bildern und Artefakten. Eine seit den 1980er-Jahren immer häufiger zu findende Fortführung dieser Methode ist die Appropriation oder Dekonstruktion bewegter Bilder in den Medien Film und Video, die Arbeit mit Found Footage. Diesem "Kino aus zweiter Hand" hat die österreichische Filmwissenschaftlerin Christa Blümlinger ihre im April 2009 erschiene Habilitationsschrift gewidmet.

Eine Besonderheit des Films liegt darin, dass ihm als per se reproduktivem Medium die Wiederaufnahme von Bildern in Form von Montage und Kopie bereits inhärent ist, jedes Selbstzitat durch die Geste der einverleibenden Wiederholung also eine tautologische Komponente hat. Die so genannten Archivkunstfilme gehen jedoch über bloße Selbstreferenzialität hinaus, wenn sie in anderem Kontext entstandene Bilder neu kombinieren, sie isolieren und verdoppeln oder mit filmischen Mitteln wie Cadrage und Verlangsamung interpretieren. Die Reflexion filmischer Ästhetik, Konvention und Symbolik verknüpft sich mit einer historischen Verortung des Phänomens der filmischen Collage und Remontage und der Sichtbarmachung verschiedener zeitlicher Dimensionen des verwendeten Materials. Tradierte Kategorien wie Autorschaft, Originalität, Zitat und Kopie müssen angesichts dieser kompilierten Arbeiten hinterfragt werden.

Dass Christa Blümlinger eine ausgewiesene Expertin in puncto Found Footage ist, belegen ihre Veröffentlichungen dazu seit Mitte der 1990er-Jahre. Auf der Basis der seitdem erschienenen Texte entstand das vorliegende Buch als kumulative, jedoch stark überarbeitete Schrift. Die Tatsache, dass die Kapitel somit nicht aus einem Guss, sondern über einen größeren Zeitraum hinweg entstanden sind, wirkt sich natürlich auch auf die Qualität des Lesens aus. Obgleich es Blümlinger in ihrer Einleitung gelingt, die Analysen in ein Netz übergreifender Fragestellungen einzuweben und sie die Kernaspekte ihrer Untersuchungen benennt (Referenzialität, Materialität, Temporalität), vermisst die Leserin jedoch von Zeit zu Zeit einen roten Faden, der die zum Teil recht disparaten Kapitel über ihre gemeinsame formale Grundlage hinweg verbindet. Die Vorteile der Kumulation liegen jedoch ebenso auf der Hand, denn durch die konzentrierte Beschäftigung mit den jeweiligen Werken für Katalogaufsätze, Monografien und filmwissenschaftliche Fachzeitschriften wird die Leserin mit einer großen Materialfülle und bemerkenswert detailreichen Filmbeschreibungen belohnt.

Blümlingers Ziel besteht darin, aufbauend auf zahlreichen Einzeluntersuchungen von Experimentalfilmen, Videos und Multimediainstallationen, eine Symptomatik des Übergangs herauszuarbeiten, die die Filmbilder kennzeichnet: Diese liegt zum einen in ihrer technologischen und ästhetischen Transformation bei der Übertragung vom Film in elektronische oder digitale Medien, zum anderen in der Reflexion der Spezifizität und Historizität des Filmischen durch eine kritische, historische oder archäologische Distanz, die die Künstler zu ihrem Ausgangsmaterial einnehmen. Die Vielfältigkeit der verschiedenen Aneignungsformen macht für sie die singuläre Werkbetrachtung notwendig, denn "so wenig wie die Collage als feststehende Kunstform gibt es den Archivkunstfilm als Genre" (61).

Zwei Phänomene waren für die Autorin ausschlaggebend: 1. der verstärkte Einsatz von Found Footage innerhalb der letzten zwanzig Jahre im Experimentalfilm und 2. die Übertragung in Dispositive jenseits des Kinos. Der Begriff des Dispositivs bezieht sich hier, primär in der Tradition der psychoanalytischen und der ideologiekritischen Filmtheorie stehend, auf die räumliche und zeitliche Anordnung der filmischen Elemente - des Apparats - Projektor, Filmmaterial, Leinwand und Zuschauer, welche das Rezeptionsverhalten und die Wahrnehmung der Bilder bestimmen. Durch die Übertragung von Film in den Kunstraum, durch einen sich frei bewegenden Betrachter, die Verwendung neuer Medien, Split-Screens und Loops wird die lineare Form des Films aufgebrochen und das ästhetische Erleben entscheidend verändert.

Die Auswahl ausschließlich jüngerer Werke erklärt sich damit, dass die wenigen Publikationen direkt zum Thema aus den 1960er bzw. frühen 1990er-Jahren stammen [1] und eine Aktualisierung auch hinsichtlich der großen Überschneidungen von Film und Medienkunst überfällig ist. Blümlinger führt die Renaissance des Found Footage dabei auch auf eine Neuorientierung der jüngeren Generation zurück, die sich von der materialorientierten, d.h. am reinen filmischen Prozess, dem Lichtkegel und Silberkorn interessierten Filmavantgarde der 70er-Jahre absetzt durch ihr verstärktes Interesse am indexikalischen Abbildungsverhältnis des filmischen Bildes und dem durch die Wiederverwendung transformierten Bedeutungsgehalt des Dargestellten.

Das Buch ist in sieben Hauptkapitel unterteilt, wobei das Einführungskapitel eine Art Kompendium der künstlerischen Ausdrucksformen und Begrifflichkeiten bildet, aber auch in stark verdichteter Form die film-, kunst- und kulturtheoretischen Bezüge herstellt (vor allem Benjamin, Warburg und Foucault). Es erlaubt der Autorin, sich in den Kapiteln II bis VII auf verschiedene Aspekte der Verwendung von Found Footage zu konzentrieren: Unter dem Titel "Material und Umformung" untersucht sie beispielsweise die Wiederkehr früher Eisenbahnfilme unter anderem bei Peter Tscherkassky. Nicht nur wird die Eisenbahn als sich stets wiederholendes ikonografisches Motiv der ersten Filme der Gebrüder Lumière hier aus der Filmgeschichte "wiedergeholt", sondern es wird auch auf die vielfältigen Analogien zur kinematografischen Erfahrung verwiesen, welche das Sujet für die Künstler so faszinierend macht: panoramatischer Blick eines unbewegten Reisenden, Konstituierung eines neuen Zeitraums, Diskontinuität, Schock der Bewegung und Geschwindigkeit.

Auch in den folgenden Abschnitten, die sich unter anderem mit Matthias Müllers katalogartigen Bilderserien aus Spiel- und Werbefilmen, mit Archivarbeiten von Yervant Gianikian / Angela Ricci Lucchi, Lisl Ponger und Peter Forgács, mit "Filmgeschichte als Erfahrung" am Beispiel von Chris Marker, Morgan Fisher, Jean-Luc Godard und Alexander Kluge sowie Filmpraxis im Kunstraum von Harun Farocki beschäftigen, werden überzeugend die Besonderheiten der einzelnen Werke herausgearbeitet und mit den theoretischen Fragestellungen verbunden.

Besonders der Begriff der Historizität in Verbindung mit der ästhetischen Erfahrung ist ein Kernpunkt von Blümlingers Argumentation. Historisches Filmmaterial, das zu einem Zeitpunkt neu bearbeitet und durch Montage in neue raumzeitliche Zusammenhänge gefügt wird, sich dann jedoch in jeder Aufführung erneut aktualisiert und erfahrbar wird, verbindet die Geschichtlichkeit des Materials und seine ästhetische Transformation zur Neuschaffung von künstlerischen Artefakten. Ein Bewusstsein für die Formengeschichte des Films, historische Setzungen durch die Wahl eines bestimmten Formats oder das Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis in archivbasierten Arbeiten sind Aspekte von Historizität, die Blümlinger diskutiert und in dieser Diversität nebeneinander stehen lässt.

"Kino aus zweiter Hand" von Christa Blümlinger ist ein lohnenswertes Buch über einen im deutschsprachigen Raum noch wenig bearbeiteten Bereich der Gegenwartskunst. Das erste Kapitel bietet sich an, um einen Überblick über die Fragestellungen zu gewinnen, die vom Phänomen berührt werden. Die Stärken liegen jedoch vor allem in den Einzeluntersuchungen der "historisch denkenden" (21) Filme, wenn deutlich wird, wie das vom historischen, fiktiven oder narrativen Kontext gelöste Fragment in der Verschiebung einen neuen Bildsinn entfaltet. Darüber hinaus leistet Blümlinger einen Beitrag zur Diskussion um eine Praxis der Wiederverwertung, die in Form von Wochenschauen, Dokumentationen und nicht zuletzt in der Clipkultur des Internets Einzug in den alltäglichen Bildgebrauch gehalten hat, in seinen ästhetischen Dimensionen jedoch bisher selten so differenziert betrachtet wurde.


Anmerkung:

[1] Jay Leyda: Films Beget Films. A Study of the Compilation Film, New York 1971; Cecilia Hausheer / Christoph Settele (Hgg.): Found Footage Film, Luzern 1992; William C. Wees: Recycled Images. The Art and Politics of Found Footage Film, New York 1993.


Nina Lindemeyer

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Empfohlene Zitierweise:

Nina Lindemeyer: Rezension von: Christa Blümlinger: Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst, Berlin: Vorwerk 8 2009
in: KUNSTFORM 10 (2009), Nr. 12,

Rezension von:

Nina Lindemeyer
Universität Basel

Redaktionelle Betreuung:

Barbara U. Schmidt