Rezension

Christof L. Diedrichs: "Man zeigte uns den Kopf des Heiligen". Bausteine zu einer Ereigniskultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin: Weißensee-Verlag 2008, 342 S., ISBN 978-3-89998-128-5, 36.00 EUR
Buchcover von "Man zeigte uns den Kopf des Heiligen"
rezensiert von Gerhard Weilandt, Caspar-David-Friedrich-Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Greifswald

Das Buch, um das es hier geht, kommt schlicht im Taschenbuchformat mit wenigen und sehr mäßigen Abbildungen daher. Diese äußere Form entspricht jedoch keinesfalls dem intellektuellen Anspruch des Autors. Er will nicht weniger als eine "kopernikanische Wende des Blickes". Er will das Ereignis Heiltumsweisung darstellen, wie sie "bis zu diesem Zeitpunkt in dieser Weise schlichtweg nicht gesehen wurde" (74). Sein weitreichendes Ziel ist es, die Grundlagen der Erforschung einer Ereigniskultur im Mittelalter und der frühen Neuzeit zu legen. Dazu grenzt er einleitend die Ereignisforschung von der schon lange praktizierten Rezeptionsgeschichte ab, die sich auf den einzelnen Betrachter und das einzelne Kunstwerk konzentriere. Die Ereignisforschung hingegen habe ihr Augenmerk auf ein Publikum als Gruppe zu richten, das als handelnd und Einfluss nehmend verstanden werden will. Dahinter steckt die durchaus nicht neue Überzeugung, dass sich Kultur "nicht nur in Gegenständen, Monumenten und Kunstwerken manifestiert, sondern ebenso in Körpern und ihren Vollzügen, in Handlungen und Prozessen" (12). Die Rituale der öffentlichen, massenhaften Verehrung von Reliquien im späten Mittelalter bieten sich als gutes Beispiel für die Untersuchung an, bei denen der Autor das "Scheitern einer Inszenierung als Folge spontaner Umdeutung der Appelle und Signale durch die Teilnehmer an einem Ereignis" sieht, ebenso wie die "wirklichkeitskonstituierende Kraft performativer Prozesse" (13).

Damit sind die Stichworte genannt, mit denen sich der Autor im Folgenden beschäftigt: Im ersten Kapitel definiert er seinen Zentralbegriff, das "Ereignis". Dabei handelt es sich um eine ungewöhnliche, flüchtige und unwiederholbare Begebenheit, die - anders als das Erlebnis - außerhalb des Individuums stattfindet. Wie nahmen die Teilnehmer dieses Ereignis auf? Welche Intentionen hatten die Veranstalter? Das sind die Fragen, die sich der Autor stellt. Dabei ist ihm klar, dass es kaum Möglichkeiten gibt, ein Ereignis in seiner ganzen Komplexität zu erfassen - insbesondere bei Ereignissen, die ein halbes Jahrtausend zurückliegen.

Das zweite Kapitel umfasst eine geraffte Geschichte der Heiltumsweisungen und insbesondere der dabei üblichen Handlungsabläufe. Hier folgt der Autor fast ausschließlich dem im Jahr 2000 publizierten Kompendium von Hartmut Kühne, das er als "Steinbruch" (36) für seine Darstellung nutzt. Wer das Vorbild kennt, kann diesen rein referierenden Abschnitt getrost überschlagen. [1]

Im folgenden, dritten Kapitel folgt eine theoretische Grundlegung. Der Autor grenzt sich von dem "klassischen" Historiker ab, der primär nach dem Intentionen einer Handlung fragt und nicht so sehr danach, was das Publikum davon verstanden habe, das selbst nicht als Teil der Handlung begriffen werde. Dies will der Autor ändern. Dies ist kein gänzlich neuer Ansatz, wie auch er weiß. Er sieht Verwandtes etwa in den Forschungen zur sogenannten "Schaudevotion" aus den 1920er-Jahren (Anton L. Mayer, Ildefons Herwegen), die das Magische und Subjektiv-Psychologische der spätmittelalterlichen Liturgie betonten. Deshalb auch sieht er - anders als Kühne - nicht die Erreichung von Ablass als das zentrale Movens der Heiltumsschauen, auch wenn der enge Zusammenhang von Ablass und Beginn von Heiltumsfahrten unübersehbar ist (46). Vielmehr sei - nach Mayer - das Schauen selbst das eigentliche Ziel des Ereignisses, nicht bloß Mittel zum Zweck, auch wenn diese magische Schau keinen literarischen Niederschlag gefunden habe, weil die Beteiligten des Schreibens nicht kundig waren. In dieser Perspektive 'von unten' sieht der Autor einen wesentlichen Forschungsansatz (80), auch wenn er an anderer Stelle mit Recht betont, dass die Teilnehmer der Heiltumsfahrten keinesfalls nur Angehörige der unteren Schichten waren, sondern diese genauso zahlreich von Angehörigen der gebildeten Elite besucht wurden (56), die lesen und schreiben konnten; ein Widerspruch, dem er nicht weiter nachspürt. Ihm geht es um die Prozesse der Wahrnehmung des Ereignisses Heiltumsschau. Dazu werden zunächst die Begriffe "Performativität", "Ritual" und "Aufführung" (aus der Theaterwissenschaft) erläutert. Wer mit der einschlägigen theoretischen Literatur vertraut ist, dem bietet diese Passage allerdings wenig Neues, wie der Autor freimütig bekennt (85).

Im abschließenden vierten Kapitel werden drei Fallbeispiele vorgestellt: Aachen, die älteste Heiltumsfahrt überhaupt (belegt seit 1312), dann Nürnberg, wo seit 1424 die Reichskleinodien aufbewahrt und alljährlich gezeigt wurden, schließlich Halle, wo noch unmittelbar nach dem Beginn der Reformation eine kurzlebige Heiltumsfahrt durch Albrecht von Brandenburg initiiert wurde. Das Auswahlkriterium war neben der historischen Bedeutung die Quellenlage, die in den drei Fällen besonders gut ist. Es ist an dieser Stelle weder möglich noch nötig, die in der Forschung wiederholt erörterten Abläufe der drei beispielhaften Heiltumsfahrten nachzuvollziehen, die der Autor ebenso detailliert wie quellennah beschreibt. Sein Ansatz ist es nicht, gänzlich neue Quellen heranzuziehen, was auch kaum möglich ist. Vielmehr geht es ihm um die Neuinterpretation der bekannten Vorgänge unter dem Aspekt des Performativen. Für Aachen etwa liegt die bekannte (und seit 1900 in einer deutschen Übersetzung leicht zugängliche) sehr anschauliche Beschreibung der Heiltumsschau des Jahres 1510 aus der Feder des Metzer Tuchhändlers Philippe de Vigneulles vor, die der Autor ausgiebig zitiert und kommentiert. Er interpretiert Vigneulles im Hinblick auf seinen theoretischen Ansatz, der den Prozess der Schau und die Reaktionen des Publikums in den Vordergrund stellt. In seiner Interpretation geht er sehr weit, mitunter zu weit. Dazu nur wenige Beispiele: Aus der Bemerkung Vigneulles', er habe einen Platz in einem der Häuser des Aachener Münsterplatzes eingenommen, der so überfüllt gewesen sei, "dass man nur Kopf an Kopf sah", schließt der Autor, dass für Vigneulles und seine Begleiter die Teilnahme an der Weisung beginnt, "indem sie die Beobachter beobachten. Sie lassen ausgiebig ihre Blicke schweifen und sind [...] zugleich selbst Objekt der Schaulust und Teil des 'Rahmens' der Aufführung" (154). Aus der schlichten Feststellung Vigneulles', die Ärmel des Gewandes Mariens, eines der Hauptstücke der Aachener Schau, seien sehr weit und sehr kurz gewesen, folgert der Autor: "Es ist gut denkbar, dass Philippe die Diskussion unter den Pilgern wiedergibt, die um die Frage gekreist haben mag, ob es sich bei dem als 'Kleid' bezeichneten Kleidungsstück nicht eher um ein 'Obergewand', also eine Art Mantel gehandelt hat" (176). Vigneulles kaufte sich einen Holzschnitt mit einer Darstellung der Heiltümer, der während der Weisung - so vermutet der Autor - seinen Blick lenkte und ihm später als Erinnerungsstütze für seine Aufzeichnungen diente. Dies mag so gewesen sein, doch ist es ein wenig übertrieben, daraus zu schließen, dies wäre "der einzigartige Fall, den Gebrauch eines solchen Holzschnitts von seinem Verkauf bis zu seiner Rezeption beobachten zu können" (180).

Auffallend ist die Tendenz des Autors, die Epoche des Spätmittelalters als eine extrem emotional aufgeladene Zeit darzustellen. Er beruft sich auf Johan Huizingas "Herbst des Mittelalters" aus den 1920er-Jahren, dessen kulturhistorisches Konzept in der neueren Forschung durchaus nicht unumstritten ist. Für den Autor sind die Heiltumsfahrten Ausdruck einer Gesellschaft, "die so aufgewühlt war, wie das vermutlich über keine andere Gesellschaft des Abendlands gesagt werden kann" (31). Dieser immer wiederkehrende Allgemeinplatz der Forschung wäre es wert gewesen, hinterfragt zu werden. Wer sich mit den Heiltumsfahrten näher beschäftigt, stellt neben den seltenen und dazu noch meist als Topoi eingesetzten Beschreibungen emotionaler Reaktionen einen geradezu geschäftsmäßigen Vollzug fest, der wenig von magischem Irrationalismus hat. Das Pilgerwesen und die Reliquienschau waren Alltagsphänomene, ebenso wie der Ablass, den man in den Kirchen der spätmittelalterlichen Städte jeden Tag erlangen konnte. Die Heiltumsschauen waren nur die Spitze eines Eisbergs. In unserer Gegenwart der Eventkultur, die emotionale Entäußerung geradezu fordert, mag eine solche nüchterne Sicht der Dinge wenig attraktiv erscheinen. Doch Christof L. Diedrichs meint, die Heiltumsweisungen gehörten "in eine 'Geschichte des Eventmarketings' zwingend hinein" (30). Das kann man auch anders sehen.


Anmerkung:

[1] Vgl. Wolfgang Schmid: Rezension von: Hartmut Kühne: Ostensio reliquiarum. Untersuchungen über Entstehung, Ausbreitung, Gestalt und Funktion der Heiltumsweisungen im römisch-deutschen Regnum, Berlin 2000, in: INFORM 2 (2001), Nr. 6, URL: http://www.sehepunkte.de/inform/reviews.php?id=478


Gerhard Weilandt

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Gerhard Weilandt: Rezension von: Christof L. Diedrichs: "Man zeigte uns den Kopf des Heiligen". Bausteine zu einer Ereigniskultur in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin: Weißensee-Verlag 2008
in: KUNSTFORM 10 (2009), Nr. 12,

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Gerhard Weilandt
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Gerhard Lutz