Rezension

Volker Hoffmann: (Hg.) Der geometrische Entwurf der Hagia Sophia in Istanbul. Bilder einer Ausstellung, Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005,
Buchcover von Der geometrische Entwurf der Hagia Sophia in Istanbul
rezensiert von Martin Dennert, Redaktion LIMC, Basel

Die Hagia Sophia in Istanbul ist eines jener Monumente, die seit ihrer Erbauung im 6. Jahrhundert auf ihre Betrachter immer wieder eine besondere Faszination ausgeübt haben, kaum ein Bau hat eine so bedeutende Wirkungsgeschichte. [1] Auch der Berner Kunsthistoriker Volker Hoffmann ist dieser erlegen und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Bau, zunächst vor allem mit seinem Nachleben und der Restaurierungsgeschichte. [2] Seit 2000 hat er sich der Suche nach dem geometrischen Entwurfsschema der Hagia Sophia zugewandt. Die wissenschaftliche Fassung dieser Forschungen liegt in einem gelehrten, für den Laien und auch den mathematisch nicht vorgebildeten Kunsthistoriker kaum verständlichen Aufsatz vor. [3]

Eine anscheinend für ein breiteres Publikum bestimmte Vorstellung seiner Ergebnisse und Thesen bildet das vorliegende Buch, das als Begleitband einer Ausstellung entstand, die 2005 zunächst im Hagia Sophia Museum in Istanbul und in der Kunstbibliothek in Berlin gezeigt wurde, inzwischen auch in Rom und Zürich.

Das ansprechend gestaltete und durchgängig viersprachig (deutsch, türkisch, englisch, französisch) gedruckte Buch umfasst neben einem Vorwort, einer Kurzbibliografie und einem Abbildungsnachweis die 42 Texttafeln der Ausstellung, die als Doppelseiten abgedruckt sind. Hierbei sind Abbildungen und Grafiken mit kurzen Begleittexten versehen.

Nach den einleitenden Tafeln 1-3, die das Ausstellungsprojekt und etwas sehr kurz die Geschichte der Hagia Sophia vorstellen, besteht der erste Hauptteil, Tafel 4-15, aus einem Überblick zu den älteren Abbildungen und Plänen der Hagia Sophia. Hier wird das Wesentliche dieser Bilder, ihre Funktion und Intention gewürdigt. Dieser Teil reicht bis zur von Hoffmann und seinen Mitarbeitern durchgeführten lasergestützten Vermessung des Innenraums. Betont wird hier aber auch die ''ausserordentliche Genauigkeit'' des seit 1937 von dem amerikanischen Architekten Robert van Nice mit der Hand und einfachsten Messhilfen angefertigten Aufmaßes des Baus, dessen Pläne dann auch als Plangrundlagen der Abbildungen des Buches verwendet wurden (Taf. 17). Hieraus ergibt sich für den unvoreingenommenen Leser allerdings die Frage, wozu die Neuvermessung eigentlich nötig war.

Der Hauptteil des Buches, Tafel 16-33, beschäftigt sich mit dem vom Verfasser 'entdeckten' Entwurfsverfahren der Hagia Sophia. Nach ihm geht der Entwurf auf eine einzige Entwurfsfigur zurück: das in Anlehnung an Ptolemaios so genannte ''Analemma'' - ein Quadrat, dem ein Kreis umschrieben und dem ein Kreis eingeschrieben ist. Dreidimensional wird daraus eine Figur, die die Durchdringung eines Würfels und einer Kugel abbildet. Aus dieser ließen sich dann mit geometrischer Logik alle bauplanrelevanten Punkte und Linien der Hagia Sophia ableiten. [4]

Dies wird hier in zahlreichen Plänen des Baues mit eingezeichneten Entwurfsfiguren vorgeführt, der durchschnittliche Leser dürfte aber auch in dieser Fassung kaum der mathematischen Logik folgen können. Die geometrischen Figuren scheinen jedoch tatsächlich alle möglichen Punkte zu erklären. Ernste Bedenken kommen allerdings auf, wenn nicht nur von dem durch die vier inneren Pfeilerkanten gebildeten Quadrat ausgegangen werden kann, sondern ein weiteres im Faktor 1:1,06 größeres, 'abstraktes' Quadrat zur Konstruktion notwendig ist, das im Bau selbst an keiner Stelle so abgelesen werden kann, und erst das daraus abgeleitete ''Doppelanalemma'' die ganzen geometrischen Überlegungen möglich macht.

Der Leser wird sich die entscheidende Frage stellen: Wozu das Ganze? Welchen Sinn hat die Suche nach einem mathematisch-geometrischen 'objektiven' Entwurfsverfahren für die Hagia Sophia? Wird hier nicht eine Sichtweise der Modularisierung angelegt, wie sie in der modernen Architektur erst seit Le Corbusier angewendet wird? Was bringen uns diese 'Planspiele' zum Verständnis des Grundrisses und des Raumes der Hagia Sophia? Zwar waren die Architekten der Hagia Sophia, soweit wir aus den antiken Quellen ablesen können, Mathematiker, aber haben sie den Bau erst bis ins Letzte durchkonstruiert oder ist hier nicht doch mehr ein praktischer Ansatz verlangt, wofür etwa auch die griechische Bezeichnung für die Architekten (mechanikos oder mechanopoios) spricht? [5] Nur aus dem geometrischen Entwurf heraus, ohne Überlegungen zu Konstruktionstechnik und Statik, hätte der Bau niemals errichtet werden können. Für keinen anderen Bau der Antike oder der Spätantike ist eine derartige Ableitung des gesamten Baues von einer einzigen Entwurfsfigur nachgewiesen.

Tafel 34-37 schließlich widmen sich ''Konstruktion und Deformierung'' des Baues. Wie bekannt, ist die erste Kuppel aufgrund statischer Probleme bereits 558 eingestürzt und kurz darauf stark verändert wieder aufgebaut worden, u. a. mussten die Pfeiler verstärkt, die Strebepfeiler erhöht, die Fensterwände vollständig erneuert und vor allem die Kuppel mit einem neuen Querschnitt gänzlich neu gebaut werden. Aber auch dies konnte die dauerhafte Stabilität der gewagten Kuppel nicht garantieren und so kam es immer wieder zu neuen Reparaturen und Schäden des Baues. Diese 'Erneuerungen' werden kurz, aber sehr anschaulich erläutert. Nicht erwähnt wird hier aber, wie problematisch alle am Bau abgelesenen Maße sein müssen, ist der Bau doch etwa gerade durch die zahlreichen Erdbeben in vielen Teilen stark 'verzogen'.

Der letzte Teil, Tafel 38-42, ist den übergreifendsten, aber auch problematischsten Ideen Volker Hoffmans gewidmet: ''Mathematik und Kosmologie''. Hier wird die These aufgestellt, die beiden antiken Modelle der Form des Kosmos, Kubus und Sphäre, vereinigten sich gleichsam im Entwurf der Hagia Sophia: ''Sphäre und Kubus, zu einem kombinierten Weltmodell vereinigt, also Weltgestalt und Weltordnung darstellend, bilden das grundlegende Entwurfsmodell der Hagia Sophia'' (Taf. 40). Dies wird dann mit dem Selbstverständnis Justinians zwischen kaiserlicher und geistlicher Macht kombiniert: ''Das Kosmogramm des Analemmas repräsentiert in seiner Verdoppelung wahrscheinlich das imperium und das sacerdotium. Die reziproken Quadrate [...] spiegeln so das Ideal einer Herrschaftsform, in der zwei Mächte gleichen Ursprungs stets von neuem zur Einheit und Übereinstimmung gebracht werden'' (Taf. 42). Nach Meinung des Rezensenten sind wir hier auf dem Gebiet der vollständigen Spekulation angekommen, keine zeitgenössische Quelle gibt uns auch nur den geringsten Anhaltspunkt, dass die Hagia Sophia in justinianischer Zeit so interpretiert wurde, ja dass diese Vorstellung überhaupt bekannt war.

Einen wirklichen Fortschritt in der Erforschung der Hagia Sophia bildet dieses Buch sicher nicht, es erinnert aber daran, dass noch vieles zu tun ist. So ist etwa die Architekturplastik des Baues erst vor Kurzem erstmals vollständig vorgelegt worden [6], von einer wirklichen Baugeschichte der Hagia Sophia sind wir jedoch noch weit entfernt.

Anmerkungen:

[1] Siehe dazu jetzt Robert S. Nelson: Hagia Sophia, 1850 - 1950. Holy wisdom modern monument, Chicago 2004.

[2] Volker Hoffmann (Hg.): Die Hagia Sophia in Istanbul. Akten des Berner Kolloquiums vom 21. Oktober 1994, Bern u. a. 1997; ders. (Hg.): Die Hagia Sophia in Istanbul. Bilder aus sechs Jahrhunderten und Gaspare Fossatis Restaurierung der Jahre 1847 bis 1849. Katalog der Ausstellung, Bern 1999.

[3] Volker Hoffmann / Nikolaos Theocharis: Der geometrische Entwurf der Hagia Sophia in Istanbul. Erster Teil, in: Istanbuler Mitteilungen 52 (2002), 393-428.

[4] Interessanterweise beschäftigten sich der Archäologe Rudolf H. W. Stichel und der Architekt Helge Svenshon etwa gleichzeitig mit dem Entwurfsprinzip der Hagia Sophia und kamen zu einem gänzlich anderen Ergebnis, dem regelmäßigen Achteck als Entwurfsmodell, siehe H. Svenshon: Das unsichtbare Oktagramm. Überlegungen zum Grundrissentwurf der Hagia Sophia in Konstantinopel, in: Almanach Architektur 1998-2002. Lehre und Forschung an der Technischen Universität Darmstadt, Tübingen 2003, 234-243; R H. W. Stichel: Die Kuppel an der 'goldenen Kette'. Zur Interpretation der Hagia Sophia in Konstantinopel, in: ebenda 244-251; R. H. W. Stichel / H. Svenshon: Das unsichtbare Oktagramm und die Kuppel an der 'goldenen Kette'. Zum Grundrissentwurf der Hagia Sophia in Konstantinopel und zur Deutung ihrer Architekturform, in: Bericht über die 42. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung München 2002, Bonn 2004, 187-205.

[5] Siehe Künstlerlexikon der Antike Bd. 1, München-Leipzig 2001, 362-363 s. v. Isidoros IV (Martin Dennert).

[6] Alessandra Giuglia Guidobaldi / Claudia Barsanti: Santa Sofia di Costantinopoli. L'arredo marmoreo della grande chiesa giustinianea, Città del Vaticano 2004.


Martin Dennert

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Empfohlene Zitierweise:

Martin Dennert: Rezension von: Volker Hoffmann: (Hg.) Der geometrische Entwurf der Hagia Sophia in Istanbul. Bilder einer Ausstellung, Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005
in: KUNSTFORM 7 (2006), Nr. 7,

Rezension von:

Martin Dennert
Redaktion LIMC, Basel

Redaktionelle Betreuung:

Ute Verstegen