Rezension

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Die mit der Weiterentwicklung der elektronischen Visualisierungstechniken zusammenhängende Aufwertung der Naturwissenschaften ist eine der ausschlaggebenden Ursachen für den gesellschaftlichen Anpassungsdruck, dem die Kunstgeschichte als akademische Disziplin gegenwärtig ausgesetzt ist. Die parallele Abwertung der "schönen Künste" im Normensystem trug zusätzlich zur Entfaltung breit gefächerter Legitimierungsstrategien bei, von denen die Kunst und die Kunstwissenschaft gleichermaßen betroffen sind.

Die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bietet in diesem Zusammenhang - nicht zuletzt aufgrund des häufig exemplarischen Charakters ihrer Fragen und Antworten - den wohl aufschlussreichsten Leitfaden. Darum stellt die vorliegende Spezialausgabe unseres Rezensionsjournals ausschließlich Publikationen zur Kunst und Architektur des 20. und 21. Jahrhunderts vor, die thematisch wie qualitativ das Geflecht von Innovation und Tradition in der aktuellen kunstwissenschaftlichen Literatur widerspiegeln.

Die fünfzehn vorgestellten Bücher repräsentieren nicht zuletzt die für die Kunst des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart charakteristische Vielfalt der eingesetzten Medien und Techniken: Die Spannweite der vorgestellten Gattungen und künstlerischen Ansätze reicht von der Architektur des späten 19. Jahrhunderts und ihrer Reflektion in den Bildenden Künsten der damaligen Zeit bis zur Befindlichkeit der künstlerischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, von der Fotografie des frühen und späten 20. Jahrhunderts bis hin zur Malerei des Abstrakten Expressionismus sowie der Konzept- und Gegenwartskunst. Entsprechend vielfältig sind die verschiedenen Rezensionen:

So attestiert Herbert Molderings beispielsweise der Neuausgabe des 1928 erstmals erschienenen fotografischen Mappenwerks "Métal" von Germaine Krull - einem "Gründungswerk der fotografischen Moderne in Frankreich" - eine meisterhafte Gestaltung. Zugleich weist er aber auf die stilistische Zuordnungsproblematik zwischen den dort dargestellten Ansichten der französischen, deutschen, russischen und niederländischen Avantgarde zur Industriearchitektur hin - und auf die noch nicht gelösten Probleme der Datierung einzelner Aufnahmen.

Maren Polte durchleuchtet in ihrer Rezension der Dissertation von Patricia Drück über die großformatigen Portraits von Thomas Ruff den dort beschriebenen "Umschwung von einem Bedeutungsbild zur gestalteten Oberfläche" mitsamt der dafür geschaffenen Begriffe wie "Gesichtlichkeit" oder "Ent-gesichtung" des Portraits.

Das Verhältnis von Kritik und Selbstbehauptung innerhalb der DADA-Bewegungen in Berlin und Köln ist das Thema der bereits 2002 veröffentlichten Dissertation von Bettina Schaschke, deren Polyperspektivität von Stefanie Muhr grundsätzlich positiv charakterisiert wird. Die Rezensentin erkennt sie, nicht zuletzt im Hinblick auf das bei Schaschke lobenswerterweise berücksichtigte Phänomen der Synästhesie, als ein sinnvolles Instrument für die Erfassung der Vielfältigkeit der "dadaistischen Verwandlungskunst" an.

Eine fundierte Untersuchung der so genannten "3 Stoppages étalon" von Marcel Duchamp ist der Gegenstand der Rezension von Lars Blunck, in der Herbert Molderings' "Kunst als Experiment. Marcel Duchamps '3 Kunststopf-Normalmaße'" im Kontext der "Ästhetik des Zufalls" und der (Para-)Wissenschaften des frühen 20. Jahrhunderts einer differenzierten und durchweg positiven Analyse unterzogen wird.

Bluncks Urteil über die beiden rezeptionsästhetisch motivierten Fallstudien zu Christian Boltanski und Bill Viola fällt dagegen eher negativ aus: Der gewollten Postulierung einer methodischen Perspektivlosigkeit in der Studie von Angeli Jahnsen (einem Versuch, die "Jeweiligkeit eines Jeden" des ästhetischen Urteils zu ergründen) stellt Blunck den Vorwurf der Zirkularität und Beliebigkeit entgegen und deckt damit eine Pattsituation auf, in der die unhintergehbaren und uneinholbaren (um zwei Lieblingsadjektive von Max Imdahl zu nennen) Paradoxe der notwendigen gleichzeitigen Ästhetisierung und Historisierung von Kunst ersichtlich werden.

Annette Tietenberg vertritt in ihrer Studie "Konstruktionen des Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts" ebenfalls einen (in diesem Fall explizit auf den Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß sich berufenden) rezeptionsästhetischen Ansatz. Kerstin Skrobanek stellt in ihrer Rezension dieses Buches die kritische Lektüre, der die Autorin die sämtliche Literatur zu Eva Hesse unterzieht, dar - eine Lektüre, in der die vergleichbaren Argumente der "konservativen" und der "feministischen" Forschung miteinander konfrontiert werden.

In ihrer Besprechung des Pollock-Buches von Olga Lewicka argumentiert Regine Prange gegen die dort vertretene These, dass die Pollockschen Dripping-Bilder für eine radikale Dekonstruktion des Bildes und der Malerei stünden und übt Kritik an dem "neuen Fundamentalismus (...) des strukturalistischen Textparadigmas".

Verschiedene Texte zu Willem de Kooning, die in dem neuen Ausstellungskatalog des Kunstmuseums in Basel kürzlich veröffentlicht wurden, prüft Olaf Peters in seiner Rezension. Von der "Multiperspektivität" eines jeden Pinselstriches und dem langwierigen Bildentstehungsprozess ausgehend, liefert beispielsweise Ralf Ubl in seinem Beitrag den von Olaf Peters als zentral eingeschätzten Hinweis, dass der "Pollock-Antagonist" de Kooning am Staffelbild "'eine zentrifugale oder gar ungerichtete Mannigfaltigkeit malerischer Effekte' realisiere und dies mutatis mutandis auch für die figürlichen Bilder gelte".

Hubertus Kohle thematisiert in seiner Rezension des Buches "Symbolism and Modern Urban Society" von S. Hirsh den vermeintlichen Abschied von dem nach wie vor gängigen Symbolismus-Bild mit seiner Weltabgewandtheit und Urbanitätsfeindlichkeit.

Die Adolf Loos-Studie von Anders V. Munch bleibt aus Carsten Ruhls Sicht hinter der vom Autor geweckten Hoffnung, "uns einen ganz anderen Loos zu präsentieren", zurück.

Kathleen James-Chakraborty (University of California, Berkeley) bereichert die vorliegende Spezialausgabe mit zwei Rezensionen in englischer Sprache: Das Buch der Literaturwissenschaftlerin Victoria Rosner "Modernism and the Architecture of Private Life" befasst sich mit Innenarchitektur und -Design im Kontext der "domestic revivals" (post-)viktorianischer Zeit und basiert auf einem aus der Sicht der Rezensentin wohltuenden interdisziplinären Ansatz. Zudem demonstriere Rosner, dass die auf den kontinentalen Beispielen des frühen 20. Jahrhunderts immer noch basierenden architektonischen Paradigmen einer kritischen Überprüfung unterzogen werden sollten. Das gelte auch für die pseudopositivistischen Tendenzen der Kunstwissenschaft. Rosner zeigt demnach, "how much is to be gained from a sympathetic, if not uncritical, reconstruction of her subject's worldview".

Die von Wolfgang Pehnt beschriebene umfangreiche Geschichte der deutschen Architektur seit 1900 unterzieht James-Chakraborty einer ebenso wohlwollenden wie differenziert-kritischen Analyse mit zahlreichen Verbesserungsvorschlägen hinsichtlich der dort nicht berücksichtigten Architekten und architektonischen Aufgaben.

Oliver Jehle bespricht das Buch "Wie Kunstwerte entstehen. Der neue Markt der Kunst" von Katja Blomberg und vermisst hier eine insistierende(re) Kritik hinsichtlich der gegenwärtigen Institutionen des Kunstmarkts.

Ulrike Gehring befasst sich schließlich mit einer Einführung in die Kunst der Moderne und der Gegenwart von Anne-Marie Bonnet und der dort - gewissermaßen selbstreferenziell, implizite wie explizite - gestellten Frage über die Chancen und Herausforderungen von herkömmlichen und diese "dekonstruierenden" Überblicksdarstellungen zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Nicht unpolemisch berichtet die Rezensentin über die "schlagwortartige Aneinanderreihung verschiedener Epochenbegriffe", die "das im Vorfeld kritisierte Bedürfnis nach schlüssigen Periodisierungskriterien ad absurdum" führte.

Im letzten Augenblick erreichte uns erfreulicherweise auch eine Rezension in französischer Sprache: Béatrice Joyeux-Prunel vom Institut d'Histoire moderne et contemporaine in Paris befasst sich mit dem von Lars Blunck herausgegebenen Sammelband "Werke im Wandel. Zeitgenössische Kunst zwischen Werk und Wirkung", das anlässlich einer an der Technischen Universität in Berlin veranstalteten Tagung im Herbst 2005 veröffentlicht wurde. Die Rezensentin bietet einen interessanten und interessierten Blick auf die ästhetische Debatte über die zeitgenössische Kunst "jenseits des Rheins" und bemüht sich in ihrer umfangreichen Einschätzung sowohl auf die einzelnen Beiträge einzugehen (Lars Blunck, Dorothea von Hantelmann, Christian Janecke, Slavko Kacunko, Katja Kwastek, Juliane Rebenstich, Philip Ursprung), als auch um eine theoretische Zusammenfassung zur dort stets wiederkehrenden Frage zur Rolle des Betrachters in der Kunst der Gegenwart.

Als eher zufällig und abgabefristbedingt ist die Tatsache zu bewerten, dass die erste Spezialausgabe zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts keinen Beitrag zur aktuellen bildwissenschaftlichen Debatte enthält (vgl. die Mai- und Dezemberausgabe 2005). Unser Rezensionsjournal wird auch weiterhin die spannende Diskussion um die künftige Ausrichtung des Faches verfolgen. Zwei Hinweise im Hinblick auf die bevorstehenden Projekte mögen an dieser Stelle genügen: An der Universität Osnabrück findet zwischen dem 15. und 17. Mai 2006 eine Fachkonferenz über die Kunst- und Bildwissenschaft im Spannungsfeld zwischen Performance- und Medienkunst statt. Zudem plant Jutta Held eine Publikation zum Thema "Bildwissenschaft" mit dem Ziel, einen im produktiven Sinne kritischen Standpunkt zu gewinnen, durch den neue Sichtweisen und Möglichkeiten der Weiterentwicklung dieses Bereiches eröffnet werden sollten.

Zum Abschluss dieses ungewöhnlich umfangreichen Editorials möchte ich mich als Herausgeber dieser Spezialausgabe und als scheidender Herausgeber der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bei meinen Kollegen Mitherausgebern Ulrich Fürst, Hubertus Kohle, Stefanie Lieb und Peter Helmberger für ihre Unterstützung in den vergangenen drei Jahren herzlich bedanken. Mein Dank gilt auch allen Rezensenten und insbesondere den an der Veröffentlichung beteiligten Fachredakteuren Carsten Ruhl, Olaf Peters und Lars Blunck.

Slavko Kacunko


zur Ausgabe KUNSTFORM 7 (2006), Nr. 2

Empfohlene Zitierweise:

Kerstin Skrobanek: Rezension von: Annette Tietenberg: Konstruktionen des Weiblichen. Eva Hesse: ein Künstlerinnenmythos des 20. Jahrhunderts, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2005
in: KUNSTFORM 7 (2006), Nr. 2,

Rezension von:

Kerstin Skrobanek
Kunstgeschichtliches Institut, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Redaktionelle Betreuung:

Sigrid Ruby