Rezension

Karin Rhein: Deutsche Orientmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwicklung und Charakteristika, Berlin: Tenea 2004,
Buchcover von Deutsche Orientmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
rezensiert von Gabriele Genge, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

Der Orient ist ein imaginäres Produkt westlicher Erzählkunst, Exotismen, Versprechen von Sinnlichkeit und Zauber gehören zu seinem Geschäft, das sich mit erstaunlicher Beredsamkeit bis heute verbreitet. Seit dem Erscheinen von Edward Saids viel diskutiertem diskursanalytischen Abriss zum Orientalismus [1] ist es jedoch schwer geworden, weiterhin die Geschichte eines "lockenden" Orients zu erzählen, ohne zugleich die kolonialpolitische Verortung dieses Märchens im westlichen Kulturbegriff und seinen diskriminierenden Instrumenten und Mechanismen zu sehen. Bis heute scheiden sich zwar die Geister an der Frage, ob Saids Orientalismus-Begriff den westlichen Machtdiskurs zu einseitig und undurchlässig fasste und damit einem neuen Identitätskonstrukt das Wort redete [2] oder Fragen des geschlechtsspezifischen Kulturbegriffes nicht behandelte. [3] Auch häufen sich in den letzten Jahren die Versuche einer Ehrenrettung der Orientalisten und ihrer Hervorbringungen, die vornehmlich den Bereich des Ästhetischen von politischen Implikationen frei halten möchten. [4]

Die nun publizierte Dissertation Karin Rheins zur deutschen Orientmalerei hält sich erstaunlich fern von den erwähnten theoretischen Diskursen. Vielleicht erliegt die Autorin hier den Verlockungen der historistischen Narration, die die "Erschwernisse" der Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte beiseite legt. Möglicherweise liegt der Grund für diese methodische Entsorgung eines umfangreichen Theoriepaketes auch in ihrer Themenwahl begründet, die sich auf den deutschen Ausnahmefall beruft: Deutschland besaß keine Kolonien im Orient und sei daher unter anderen Voraussetzungen zu betrachten als insbesondere der Nachbarstaat Frankreich. Darüber hinaus lasse sich in Deutschland sogar eine Entkoppelung von Orientmalerei und deutscher kolonialer Großmachtpolitik in Afrika nachzeichnen, der Höhepunkt des deutschen Imperialismus falle nicht mit der Blüte der Orientmalerei zusammen (13f). Wenn die Autorin an späterer Stelle auf Edward Said Bezug nimmt, so nutzt sie diesen, um ihre These eines deutschen "klassisch-akademischen" statt "politisch-imperialistischen" Orientbildes zu bekräftigen (148). Der hier verfochtene deutsche Sonderweg verstellt jedoch den Blick auf ein brisantes politisches Erbe des 19. Jahrhunderts und birgt den Verzicht auf die Auseinandersetzung mit den Traditionen des eurozentrischen Kultur- und Bildbegriffs.

Tatsächlich wurde die deutsche Orientmalerei bislang noch unzureichend beziehungsweise rein ikonografisch [5] oder künstlermonografisch [6] untersucht. Rheins nun breiter angelegtes Ansinnen, die "Entwicklung" und die "Eigenart" (14) der deutschen Orientmalerei darzulegen bietet zwar eine wesentlich umfassendere Analyse, die insbesondere die hochaktuellen Themen der Orient-Reise und der Orient-Ausstellung anspricht. Die problematische These von der "Eigenart" der deutschen Malerei führt jedoch zu Verkürzungen und Widersprüchen.

In einem einleitenden Kapitel erarbeitet Karina Rhein zunächst den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Kontext, der das Engagement der Deutschen im Orient im 19. Jahrhundert bedingte, wobei sie stetig auf dem "un-politischen" Charakter der zahlreichen aufgezählten Einflussnahmen des deutschen Kaiserreiches in Ägypten, dem damaligen osmanischen Reich und Palästina beharrt (18f). Spätestens der Blick auf die deutsche Ägyptologie, für deren Rolle Karin Rhein selbst wichtige Anhaltspunkte nennt, müsste die deutliche kulturpolitische Funktion des staatlichen Engagements vor Augen führen: Die Forschungsreisenden und Ägyptologen Karl Richard Lepsius und Georg Ebers handelten in staatlichem Auftrag und legten mit ihren "mitgebrachten" Sammlungen den Grundstein für das berühmte Neue Museum in Berlin (25). Überdies belegen Rheins Ausführungen paradoxerweise, dass die literarischen, musikalischen und kunstgewerblichen Erzeugnisse der "Orientmode" zeitgleich mit dem Höhepunkt der kaiserlichen Kolonialpolitik um 1900 im Umlauf waren (32). Ebenso aufschlussreich sind ihre anschaulichen Berichte zu den französischen und deutschen Kolonialausstellungen, die mit zeitgenössischen Beschreibungen aufwarten (43f). Hier, wie auch bei der Thematik der Orient-Reisen (49f) fällt die Häufung und stetige Wiederholung der Orient-Klischees zwischen "Faszination" und "Fremdheit" auf, die von den Autoren des 19. Jahrhunderts bemüht wurden. Es stellt sich daher die Frage in welchen Grenzen vor Ort oder in Ausstellungen überhaupt "Erfahrungen des Fremden" gemacht werden konnten und welche Wahrnehmungsbedingungen eine modernisierte Kultur und Wissenschaft hier entwickelt hatte. Die Autorin bleibt in der Beantwortung dieser Fragen unklar.

Insbesondere der nachfolgende chronologische Überblick zu einzelnen Malern und ihren Malweisen, festgemacht an Bildbeschreibungen, liefert eine eher disparate Übersicht über Techniken der Orientdarstellung, die von dramatischen Figurenbildern zu einem scheinbar vom französischen Vorbild abweichenden "pittoresken Orient mit ethnographischen Elementen" (Wilhelm Gentz) hin zu einer malerisch koloristisch emanzipierten Stimmungslandschaft und reiner Architekturwiedergabe (Gustav Bauernfeind) führen. Dass das "ethnographische Interesse", dessen Bestimmung oder Definition durch die Autorin nirgends erfolgt, ab den 1870er-Jahren abnehme (80), dann ab den 80er-Jahren das Figurenbild (Max Rabes) bevorzugt werde, bleibt eine auf wenigen Bildvergleichen fußende These. Den Abschluss der Entwicklung bilden, so Rhein, Darstellungen, die einen "sachlicheren" zeitgenössischen Orient wiedergeben und die vermehrte Hereinnahme von erotischen Themen (92), bis zuletzt die Fotografie die Malerei abgelöst habe (93). Bereits in diesem ersten werkorientierten Kapitel erschwert die mangelhafte Qualität der mit Marmorierungseffekten abgedruckten Schwarzweißabbildungen und das stark verkleinerte Bildformat die Lektüre leider ganz erheblich.

Die gattungsspezifische (Genre und Landschaft) und formale Untersuchung der erwähnten Darstellungen bleibt dem Folgekapitel (111f) vorbehalten, wodurch es unvermeidlich zu Wiederholungen kommt, die "Entwicklung" zudem aus dem Blick gerät. In diesem Teil bestätigt sich, dass Karin Rhein die deutsche Orientmalerei tatsächlich als Produkt der unmittelbaren Reiseerfahrungen von Künstlern, nicht aber als Resultat westlicher Bildrhetoriken ansehen möchte. Mögliche Deutungsansätze, so die Gattungsgeschichte, die den ästhetischen Rahmen für einen modernen Wahrheitsanspruch der Orientmalerei klären könnte, bleiben unbehandelt. Die Inszenierung von wissenschaftlicher Authentizität im Bild durch übliche Verfahren der Selektion, Idealisierung und fotografisch vermittelten Bildmontage belegt die Autorin anhand einzelner leider oft oberflächlicher Bildvergleiche. Diese von der Forschung ausführlich behandelten Techniken [7] werden bei Rhein zu scheinbar bezugs- und kontextlosen genuinen Verfahren der deutschen Orientmalerei mit besonderem Unmittelbarkeitswert. So macht Rhein den Unterschied des Deutschen Wilhelm Gentz zum Franzosen Jean-Léon Gérome daran fest, dass Gentz "dem Wesen des Orients nachspürt", bei Gérôme hingegen "Eigenarten des Orients sehr viel stärker ästhetisiert werden" (114). Zu dieser einseitigen Lesart gehört auch, dass Karin Rhein wiederholt gerade Gentz' scheinbar unvoreingenommene Sicht auf die Stellung der Frau im Orient anführt, (136, 149, 170) auch wenn sie ansonsten auf die Diskussion der Rolle des Weiblichen als westlichem Kulturträger verzichtet.

Dieses Manko stimmt vor allem dann bedenklich, wenn Karin Rhein ihre aus der Bildbeschreibung gewonnenen Thesen zu Aussagen über einen deutsch-französischen Gegensatz in der Orientmalerei verallgemeinert. Die französische Orientmalerei lasse sich, beispielhaft festgemacht an Werken Eugène Delacroix' und Henri Regnaults, an den bevorzugten Themen eines von Erotik und Gewalt geprägten "orient imaginaire" festmachen, während die deutschen Maler die implizit wissenschaftsorientierte pittoreske Stimmungslandschaft gepflegt hätten (134). Sie entkräftet diese von üblichen Nationalklischees getragene Einordnung jedoch auch selbst wieder, indem sie zu Recht die Wissenschaftsorientierung der Genre- und Landschaftsbilder des französischen Orientmalers Jean Léon Gerôme (207) und die erotischen Haremsbilder des Deutschen Max Bredt anführt (135).

Die abschließende rezeptionsgeschichtliche Untersuchung zur deutschen Orientmalerei ist bemerkenswert ausführlich. Sie erbringt unter anderem den Nachweis, dass deutsche Kritiker noch 1894 an der Orientmalerei "ethnographische Authentizität" (184) schätzten. Hier hätte sich ein wesentlicher Bezugspunkt der Orientmalerei zur ethnografischen Fotografie und nationalen Identitätsbildung ergeben, der wiederum die Nähe des deutschen zum französischen Orientalismus belegt hätte.

Karin Rheins Publikation liefert eine Fülle anschaulicher Aspekte und Textquellen, die bislang von der Forschung noch nicht berücksichtigt wurden und als wesentliche Grundlage für die weitere rezeptionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Orientmalerei anzusehen sind. Deren Inszenierung zu einem ästhetischen und politischen deutschen Sonderweg muss jedoch vor allem deshalb als problematisch gelten, da die Autorin die aktuelle kritische Auseinandersetzung um Begriffe kultureller Identität umgeht beziehungsweise komplett ausblendet.


Anmerkungen:

[1] Edward W. Said: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London 1978.

[2] Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, hg. v. Elisabeth Bronfen. Tübingen 2000, 97f.

[3] Reina Lewis, Gendering Orientalism. Race, Feminity and Representation. London New York 1996.

[4] John M.MacKenzie: Orientalism, History, Theory and the Arts. Manchester 1995.

[5] Erika Günther: Die Faszination des Fremden. Der malerische Orientalismus in Deutschland. Marburg 1990.

[6] Martina Haja; Günther Wimmer (Hg.): Les orientalistes des écoles allemande et autrichienne. Courbevoie 2000.

[7] Friedrich, Annegret (Hg.): Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur. Marburg 1997.


Gabriele Genge

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Empfohlene Zitierweise:

Gabriele Genge: Rezension von: Karin Rhein: Deutsche Orientmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entwicklung und Charakteristika, Berlin: Tenea 2004
in: KUNSTFORM 6 (2005), Nr. 3,

Rezension von:

Gabriele Genge
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

Redaktionelle Betreuung:

Ekaterini Kepetzis