Rezension

Marcia B. Hall: (ed.) Michelangelo's 'Last Judgment'. , Cambridge: Cambridge University Press 2005,
Buchcover von Michelangelo's 'Last Judgment'
rezensiert von Franz-Joachim Verspohl, Kunsthistorisches Seminar, Friedrich-Schiller-Universität, Jena

In seinen 1976 erschienenen Michelangelo Studien III, die das Jüngste Gericht behandeln, würdigt Alexander Perrig Marcia B. Halls im gleichen Jahr publizierten Aufsatz des Art Bulletin zu eben dem Thema. Sie habe zur Entkräftung der seit langem durch die Literatur geisternden These beigetragen, "wonach im Frühjahr 1534 als Gegenstand der sixtinischen Altarwanddekoration kein Jüngstes Gericht, sondern eine Auferstehung geplant gewesen sei". Andererseits schwäche die Autorin ihre Argumentation dadurch, dass sie diese ausschließlich auf Quellen aus dem geistesgeschichtlichen Umfeld der Zeit stütze, die "Existenz von Vorprojekten" aber "generell" negiere und die Intentionen Klemens' VII. und Michelangelos außer Acht lasse.

Perrigs Einwände gelten auch für die neue Monografie zum Jüngsten Gericht, die Hall herausgegeben hat. Alle Beiträge des Bandes scheitern an der Negierung der Ausgangssituation des Projekts, die die Autoren zu einem Spagat zwischen Befund und Auslegung zwingt. Dabei bleibt das gewaltigste und gewalttätigste Monumentalbild der Kunstgeschichte auf der Strecke. Weshalb die Kunstliteratur bis heute der Aussagekraft des wichtigsten Bilddokuments zur Vorgeschichte des Jüngsten Gerichts misstraut, gibt Rätsel auf, obwohl Perrig den berühmten Entwurf der Casa Buonarroti umfassend erschließt und zugleich "die bislang beste formale Analyse des Verhältnisses zwischen Vorzeichnungen und Ausführungskomposition" bietet. [1]

Die Genese des Jüngsten Gerichts lässt sich ohne Umwege rekonstruieren. Auf Klemens VII. lasteten wie auf vielen seiner Zeitgenossen die Gräuel des Sacco di Roma von 1527. Noch Jahre nach dem Ereignis resümiert Sebastiano del Piombo: "Ich bin nicht mehr derselbe Bastiano, der ich vor dem Sacco war. Ich habe meinen Kopf nicht mehr". Der Papst war mit seinen kirchenpolitischen und dynastischen Zielen gescheitert. Für die Fortführung der aufwändigen Arbeiten Michelangelos an der Grabkapelle der Medici fehlten ihm die Mittel. In Rom sollte sein Pontifikat zumindest mit einem denkwürdigen Kunstwerk in Erinnerung bleiben. Die Erfahrungen mit Michelangelo als Bildhauer veranlassten ihn, an dessen letztes erfolgreich vollendetes Projekt anzuknüpfen, die Malereien der Sixtina. Das Thema gab ihm der als ein göttliches Gericht empfundene Sacco vor. Er traf sich mit dem vorab brieflich informierten Michelangelo in San Miniato al Tedesco, wo er seine mit dynastischen Interessen verbundene Reise von Rom nach Nizza unterbrach. Dort eröffnete er dem Künstler, ihn von der Arbeit an der Medici-Kapelle zu entbinden, wenn er nach Rom zurückkehre und die Schmalwände der Sixtina freskiere. Da Michelangelo im Herbst 1532 den noch nicht zwanzigjährigen, ihn in jeder Beziehung fesselnden Tommaso de' Cavalieri kennen gelernt hatte, ersehnt er nichts mehr, als nach Rom zurückzukehren, obgleich die Medici-Gräber unvollendet sind und ihn in Rom die Erfüllung der Verträge des Grabmals Julius' II. erwartet. Er fördert das Zeichentalent des Patriziersohns, diskutiert mit ihm angemessene bildnerische Darstellungsweisen. Schließlich beteiligt er ihn auch am Formfindungsprozess des Jüngsten Gerichts. [2]

Michelangelo kam der Vorschlag Klemens' VII. so entgegen, dass er sich des Projekts sofort annahm. Im Oktober 1533 ist er bereits wieder in Rom. Schon im Februar 1534 wusste man dort, dass der Altarbereich der Sixtina abgesperrt sei, weil der Künstler an die Stirnwand der Sixtina ein Jüngstes Gericht malen werde. Zu diesem Zeitpunkt war das Konzept für die Altarwandgestaltung festgelegt. Michelangelo kehrte nur noch einmal für knapp drei Monate nach Florenz zurück, als sein fast einundneunzigjähriger Vater im Sommer 1534 in Settignano starb. Am 19. September 1534 schrieb er vor der Abreise aus Florenz: "Hierher kehre ich nie mehr zurück". [3]

Warum war nach Michelangelos Rückkehr nach Rom von der Ausmalung beider Schmalwände der Sixtina nicht mehr die Rede? Offensichtlich hatte der Künstler dem Papst verständlich gemacht, dass das von ihm gewählte ikonografische Programm formal nicht angemessen ausführbar sei. Die Vorzeichnungen deuten auf verschiedene Projektideen im Vorfeld der Entscheidung für das endgültige Motiv hin. Condivi, der dem Papst einen "buon giudicio" bescheinigt, berichtet "avendo sopra ciò più e più cose pensate, ultimamente si risolvé a fargli fare il Giorno dell'estremo giudicio". [4]

Das Thema gehörte jedoch nicht an eine Altar-, sondern an eine Eingangswand. Wie in der Arenakapelle von Padua war das Weltgericht auch andernorts über der Innenseite des Einganges platziert. So wird nachvollziehbar, weshalb Klemens VII. lange zögerte, zumal andere Gestaltungsvorschläge im Raum standen wie die Pendantfresken einer Himmelfahrt Mariens und einer Auferstehung Christi oder einer Himmelfahrt und der Historie der Ehernen Schlange. [5]

Wie es zur endgültigen Entscheidung kam, ist indirekt über Vasari erschließbar, der berichtet, dass Klemens VII. zunächst sowohl die Altar- als auch die Eingangswand freskiert wissen wollte. Für die Erste habe er das Gerichts-, für die andere das Engelssturz-Thema vorgeschlagen. Von der Existenz des zweiten Vorhabens hatte Vasari durch Skizzen im Besitz eines ehemaligen Gehilfen Michelangelos erfahren. Er erfuhr aber nicht, dass die beiden Themen den Wänden zunächst im Gegensinne zugeordnet waren. Doch die Entwurfsskizze der Casa Buonarotti (Abb.) bestätigt die Ausgangsidee des Papstes. Sie ist für die Eingangswand konzipiert. Zwischen den Menschengruppen ist im unteren Mittelfeld ein Gebälk angedeutet. Selbst noch bei Rohlmann als Rahmung des Altarretabels der Assunta Peruginos identifiziert, erkennt Perrig dank seiner gestreckten Form die Eingangstür der Sixtina, auf deren Architrav Michelangelo Bildpersonal platzieren kann. Er entwarf das Jüngste Gericht folglich für die Eingangs-, den Sturz Luzifers für die Altarwand. So ließ sich der Spannungsbogen beider Themen nutzen und die Rebellion mit dem Sturz der Engel zur Auferstehung der Leiber samt ihrer Erhebung und Verdammung in Beziehung setzen.

Die Konditionen der Eingangswand erschwerten eine theologisch genaue und formal überzeugende Verbildlichung. Die Tür teilt die untere Bildzone und schiebt sich als Barriere zwischen die Darstellung der Hölle und der Erde, die alle ihre Toten wieder hergibt. Sie trennt, theologisch unhaltbar, die Menschheit von vornherein in zwei Gruppen. Michelangelo blieb nur die Lösung, das Fresko über der Öffnung anzusetzen, was das Wandbild seines eigentlichen Motivs beraubt hätte, der Schauer erweckenden Dynamik eines sich schonungslos vollziehenden Auf- und Abstiegs der Leiber. Auf der gegenüberliegenden, immer schon fensterlosen Wand aber bestand die Möglichkeit, das Retabel Peruginos zu entfernen. Der Künstler gewann den Papst für seinen Vorschlag, weil er theologisch konsequent dachte. An der Altarwand verfügte er über ein geschlossenes Rechteck, an dessen unterer Begrenzung die perspektivisch gesehene Erde unterschiedslos alle Toten sowohl zum Aufstieg als auch zur Verdammnis freigibt. So offensichtlich mit der Verlegung des Jüngsten Gerichts seiner theologischen Programmatik entsprochen wurde, so erklärungsbedürftig blieb seine Relation zum Bildprogramm der bisherigen Kapellenausstattung. Allerdings konnte Michelangelos vom Wal ausgespieener Jonas über dem Fresko als biblische Vorahnung des Jüngsten Gerichts verstanden werden.

Als der Medici-Papst nach der Festlegung des Programms am 25. September 1534 verstarb, musste sich Michelangelo zunächst frei fühlen. Da die Verträge mit Klemens VII. erloschen waren, konnte er daran denken, die ihn seit neunundzwanzig Jahren quälende Vollendung des Epitaphs für Julius II. abzuschließen. [6]

Doch es lag nahe, dass Paul III. den berühmten Künstler vor allem für sich tätig sehen wollte. Er übernahm das Vorhaben seines Vorgängers vorbehaltlos, das dann bei der Besichtigung der freigelegten Partien am 4. Februar 1537 durch den Zeremonienmeister Biagio da Cesena folgenschwer diskreditiert wurde. Dass sich Michelangelo selbst bei der Ausführung des Freskos trotz seines ausgefeilten Gesamtplanes vor konfliktreiche Formfindungsprozesse gestellt sah, belegen die bei der Restaurierung zwischen 1990 und 1994 festgestellten Pentimenti.

Die meisten der hier aus der Michelangelo-Literatur entlehnten Daten und Schlussfolgerungen fehlen in dem von Hall herausgegebenen Buch. Zwar widmet die Herausgeberin der Restaurierung einen kurzen Abschnitt ihrer "Einleitung", berichtet aber von der Konfliktbeladenheit des Künstlers bei der Ausführung nicht. Erst im letzten Beitrag von Magaret A. Kuntz wird sie thematisiert. Hier wie dort geistert die Angabe "Mancinelli (1997)" durch die Fußnoten. Aber der Buchtitel taucht unter seinem Namen nicht auf. Unter "Partridge, Loren W." wird man fündig. Doch nicht er hat den Band "Michelangelo: The Last Judgment: A Glorious Restoration" herausgegeben, sondern Sandro Chierici. Die Ungenauigkeit ist ein Indiz für die Vorliebe der nordamerikanischen Kunstliteratur, Autoren der eigenen Hemisphäre zu bevorzugen und europäische allenfalls dann einzuführen, wenn ihre Beiträge zur Forschung ins Englische übersetzt vorliegen.

Der Beitrag von William E. Wallace handelt von Michelangelos Alltagssorgen zur Zeit der Entstehung des Jüngsten Gerichts und reduziert den intensiven Dialog des Künstlers mit Tommaso de' Cavalieri und Vittoria Colonna in knappen allgemein gehaltenen Absätzen zur Nebensache, sodass er resümieren kann: "Amid petty worries of money, mules, family, and farms, Michelangelo created, the Last Judgment. Altro non achade". Gediegen fassen dagegen Thomas F. Meyer und Melinda Schlitt die historischen, religions- und rezeptionsgeschichtlichen Aspekte des Themas zusammen. Kuntz behandelt die Aufgaben der Sixtina und der Paolina im päpstlichen Hofzeremoniell und kann auf diese Weise das Spektrum der Bedeutungsfunktionen des Jüngsten Gerichts bestimmen, die Hall in ihrem mittig im Buch platzierten Text wieder einengt. Sie hat ihre These von der "Auferstehung des Fleisches" aber bereits 1976 formuliert und 1997 sowie 1999 wiederholt. Doch selbst heute noch entzieht sie sich der Auseinandersetzung mit den luziden Arbeitsergebnissen Perrigs, der ihr vor knapp dreißig Jahren goldene Brücken baute, als er ihr riet, über der Deutung der symbolischen Form die formale Dimension des Kunstwerks nicht zu vergessen.


Anmerkungen:

[1] Charles de Tolnay: Corpus dei disegni di Michelangelo, 4, Novara 1975 - 1980, III, 347r; Michael Rohlmann / Andreas Thielemann (Hg.): Michelangelo. Neue Beiträge. Akten des Michelangelo-Kolloquiums, veranstaltet vom Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln im Italienischen Kulturinstitut November 1996, München 2000, 232, Anm. 20.

[2] Giovanni Poggi / Paola Barocchi / Renzo Ristori (Hg.): Il Carteggio di Michelangelo, 4, DCCCXCIX, CM, CMX, CMXXXII, Firenze 1965 - 1983; Alexander Perrig: "Bemerkungen zur Freundschaft zwischen Michelangelo und Tommaso de' Cavalieri", Stil und Überlieferung in der Kunst des Abendlandes. Akten des 21. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte in Bonn 1964, 2, Berlin 1967, 164 - 171; Alexander Perrig: "Cavalieri", Dizionario Biografico degli Italiani, 22, Rom 1979, 678 - 680; Alexander Perrig: Michelangelo's Drawings. The Science of Attribution , New Haven & London 1991; Ernst-Gerhard Güse / Alexander Perrig (Hg.): Zeichnungen aus der Toskana. Das Zeitalter Michelangelos, Saarland-Museum, Saarbrücken 1997.

[3] Paola Barocchi (Hg.): Giorgio Vasari. La Vita di Michelangelo nelle redazioni del 1550 e del 1568, 3, Mailand & Neapel 1962, 1187, Anm. 542.

[4] Ascanio Condivi: Vita di Michelagnolo Buonarroti, Giovanni Nencioni (Hg.), Rom & Florenz 1553 & 1998, 45.

[5] Alexander Perrig: Michelangelo-Studien I, III, IV, 3, Bern & Frankfurt am Main 1976 - 1977, III, 17 - 22.

[6] Franz-Joachim Verspohl: Michelangelo Buonarroti und Papst Julius II. Moses - Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker, Göttingen & Bern 2004, 1 ff.


Franz-Joachim Verspohl

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Franz-Joachim Verspohl: Rezension von: Marcia B. Hall: (ed.) Michelangelo's 'Last Judgment'. , Cambridge: Cambridge University Press 2005
in: KUNSTFORM 6 (2005), Nr. 11,

Rezension von:

Franz-Joachim Verspohl
Kunsthistorisches Seminar, Friedrich-Schiller-Universität, Jena

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle