Rezension

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

im Anschluss an die thematisch ähnlich konzipierte Sonderausgabe zur Architektur des Mittelalters im Mai 2004 legen wir in diesem Herbst eine Revue jüngerer Beiträge vor, die sich der mittelalterlichen Bildhauerkunst gewidmet haben, genauer: den überwiegend großformatigen Skulpturen in Holz und Stein.

Gerne stellen wir eine neue zusammenfassende Studie über farbig gefasste Holzskulptur der Gotik in Norwegen vor, denn nur der immer noch auf Mitteleuropa zentrierten Sicht der Kunstgeschichte ist es zu verdanken, dass dieser überraschend reiche Bestand, der in außerordentlichem Umfang noch die ursprüngliche Polychromie aufweist, so wenig bekannt ist. Ein weiterer Band mit Ergebnissen zur Farbfassung mittelalterlicher Steinskulptur - ein Arbeitsheft der Denkmalpflege zur Turmvorhalle des Freiburger Münsters - führte zu dem Befund, dass es bis heute nicht gelingen will, die überraschend zahlreichen Detailergebnisse der Restauratoren und Denkmalpfleger mit der kunsthistorischen Forschung zusammenzuführen. So wurde die Rezension unseres Redakteurs Gerhard Lutz zu einem eindringlichen Monitum, die Restaurierungsakten aus den Archivkellern hervorzuholen und in einem systematischen Ansatz auszuwerten.

In Ergänzung zu dem bereits besprochenen Katalog zu den Bildwerken im Museum Catharijneconvent in Utrecht (Juni-Ausgabe oder Nr. 6 in 2005) waren zwei weitere Ausstellungskataloge zur Bildhauerkunst des späteren Mittelalters bis hinein in die frühe Neuzeit zu rezensieren: Deutsche und französische Skulptur aus dem Rijksmuseum Amsterdam, derzeit immer noch im Museum Kurhaus Kleve zu sehen, sowie die Auswahl an Werken von Tilman Riemenschneider in Würzburg. Die Nebengedanken, die unser Rezensent Norbert Wolf über Kataloge für "die verschworene Gemeinschaft der Insider" angesprochen hat, wären eine ausführlichere Diskussion wert.

Naturgemäß bildet die Grabkunst einen besonderen Schwerpunkt: Als "gruppenspezifische Zusammenschau" wurden die Grabdenkmäler der Erzbischöfe von Trier, Mainz und Köln unter typologischen, topographischen und mediengeschichtlichen Aspekten untersucht. Auch wenn ein Sammelband über die Funeraleffigien von Westminster Abbey einen echten Randbereich der Bildhauerkunst behandelt, waren die hölzernen und wächsernen Scheinleiber, wie sie seit dem 14. Jahrhundert im Gebrauch waren, nicht nur für Totenkult und Begräbniszeremoniell wichtig; in Verwendung wie Gestaltung könnten sie auch für andere Bereiche der Grabmalskulptur aufschlussreich sein. Auffallend ist, dass sich in beiden Fällen eine Überschreitung kunsthistorischer Epochengrenzen gleichsam wie von selbst ergab.

Unverändert stellen ikonographisch ausgerichtete Studien einen wesentlichen Anteil an den besprochenen Büchern, wobei baugeschichtliche Fragen allerdings intensiv aufgegriffen werden. In die enzyklopädische Bilderwelt italienischer Kommunen führt die Arbeit über das Skulpturenprogramm des 'Palacium Communis Venetiarum', angefangen mit der Klärung der Entstehungsgeschichte seiner Kapitellskulptur über die Bestimmung der Ikonographie im Einzelnen bis hin zu weiterführenden Fragen wie der 'didaktischen' Konzeption der Bilder. Die Gestaltungsmöglichkeiten und auch die spezifischen Schwierigkeiten bei der ikonographischen Untersuchung von phantastischen Figurationen wie den 'luftfahrenden Wetterdämonen' zur Abwehr des Bösen diskutiert eine Arbeit zur Entwicklung der Wasserspeierformen am Kölner Dom. Sie ergänzt in einem wichtigen Aspekt eine Studie über 'Saracens, Demons, and Jews', die wir in der Februar-Ausgabe 2005 bereits rezensiert haben. Als eine völlige Umkehrung der etablierten ikonographischen Methode hat unsere Rezensentin Jacqueline Jung allerdings eine in den USA erschienene Studie zum Figurenprogramm der Kathedrale von Amiens bezeichnet: die Portalskulptur wird darin nicht wie üblich als 'Umsetzung' von Texten gedeutet; in der Gegenüberstellung von Skulpturenzyklus und liturgischer Unterweisung, hier einer Predigt aus den Jahren um 1260, sollen Übereinstimmungen auf einer inhaltlichen wie strukturellen Ebene aufgedeckt und von da aus auf eine dynamische Wechselwirkung zwischen Wort und Bild in der imaginativen Vorstellung des Publikums geschlossen werden.

Eine französische Studie zur Datierung mittelalterlicher Skulptur wird nicht nur deshalb große Beachtung finden, weil sie eine kritische Bestandsaufnahme der Bauchronologie von Hauptwerken wie den Kathedralen von Reims und Amiens bietet. Sie diskutiert darüber hinaus wichtige Fragen wie die Datierung anhand Bauforschung und Stilanalyse, den Umgang mit Quellenaussagen und das auf dieser dünnen Basis konstruierte Künstlerbild in sehr grundsätzlicher Weise. Eine ähnliche thematische Bandbreite von der Datierung einzelner Werke über die Chronologie von Bauwerken bis hin zur Gewichtung einzelner Künstlerpersönlichkeiten kennzeichnen auch die nun publizierten Beiträge eines internationalen Kolloquiums zu Architektur und Skulptur der Parler. 23 Jahre nach der großen Kölner Ausstellung zu diesem Bereich war es Zeit für ein Resümee der seither geleisteten Forschungsarbeit.

Offensichtlich führt die Auseinandersetzung mit Hauptwerken der Bildhauerkunst zur Kritik an Einstellungen, die von der Sache her eigentlich noch nie begründet waren, aufgrund fachgeschichtlicher Konstellationen und Lagerbildungen aber weit verbreitet und stellenweise bis zum Vorurteil verhärtet sind: erstens die Gleichsetzung der älteren Stilgeschichte inklusive ihrer deterministischen und nationalistischen Parameter mit der formalen Analyse der Gestaltung schlechthin; zweitens die artifizielle, oft nur als reflexhafte Abwehr erklärbare Abgrenzung zwischen einem formanalytischen Ansatz einerseits und funktionalen, ikonographischen, religionsgeschichtlichen sowie mediengeschichtlichen Fragestellungen andererseits. Hier zeichnet sich ein Umschwung ab: Arbeiten zu den sächsischen und westfälischen Kruzifixen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts oder zum bildhauerischen Werk des Niclaus (Gerhaert) von Leiden begreifen die ausführlich untersuchten Gestaltungsmerkmale nicht als Kriterien einer 'Stilstufe', sondern als individuelle Ausformungen neuer Bildkonzepte der Skulptur. Und sie deuten die jeweiligen Ausprägungen solcher Konzeptionen als inhaltlich motivierte Gestaltung oder - um eine einschlägige Formulierung solcher Ansätze bei Fürst (Statuen des Giovanni Pisano, München 1995, 10/11) zu gebrauchen - als ein "gestaltetes Thema" der Bildhauerkunst. Wenn die jüngsten Studien diesen formal-inhaltlichen Befund ins Verhältnis zu den historischen und religiösen Verhältnissen ihrer Entstehung setzen, scheint das Verständnis für beide Aspekte voranzukommen. In dieser weitgehenden Revision der älteren 'Stilgeschichte' zeichnet sich eine grundlegende und ertragreiche Belebung formaler Analyse ab. Diese Entwicklung werden wir mit Sicherheit weiter verfolgen...

Anregende Lektüre wünschen die Herausgeber und redaktionellen Betreuer dieser Ausgabe:

Ute Engel / Ulrich Fürst / Martin Hirsch / Gerhard Lutz


zur Ausgabe KUNSTFORM 6 (2005), Nr. 10

Empfohlene Zitierweise:

Stephan Albrecht: Rezension von: Andrea Lermer: Der gotische 'Dogenpalast' in Venedig. Baugeschichte und Skulpturenprogramm des Palatium Comunis Venetiarum, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2005
in: KUNSTFORM 6 (2005), Nr. 10,

Rezension von:

Stephan Albrecht
Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart

Redaktionelle Betreuung:

Ulrich Fürst