Rezension

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Der expansive Trend unseres Rezensionsjournals ist ungebrochen: erstmals widmet sich eine Sonderausgabe von KUNSTFORM der Architektur des Mittelalters. Ob diese Zusammenstellung als ein repräsentativer Querschnitt gelten kann, sei dahingestellt; eine aufschlussreiche Momentaufnahme der aktuellen Forschung dürfte der kritische Literaturbericht über vierzehn einschlägige Studien jedenfalls geworden sein. Auffallend erscheint uns der Anteil akademischer Qualifikationsschriften: sechs Dissertationen, drei Habilitationsschriften und eine akademische Festschrift belegen eindrucksvoll, welche Bedeutung den Hochschulen in der Erforschung mittelalterlicher Baukunst zukommt. Breit stellt sich das Spektrum der Gegenstände und methodischen Ansätze dar:

Gleich zwei Studien thematisieren die Verwendung antiker Überreste und anderer Altertümer im Bauwesen des Mittelalters. Lukas Clemens verbindet in seiner Studie über Rezeption und Nutzung solcher Relikte nördlich der Alpen die archäologisch-historische Bestandsaufnahme mit der philologischen und kulturgeschichtlichen Frage nach der damaligen Wahrnehmung der überkommenen Denkmäler. Rebecca Müller arbeitet am Beispiel der Spolienverwendung an den Gebäuden Genuas deren ideologischen Verweischarakter heraus und bezieht darin Position gegen Ansätze, welche auch Materialeigenschaften oder künstlerische Qualität als damalige Kriterien in Betracht ziehen wollen.

Einen weiteren Schwerpunkt bilden Untersuchungen zum Baumaterial und zu artverwandten Befunden. Band vier der Reihe 'Studien zur Backsteinarchitektur' konzentriert sich auf Fragen der Backsteintechnologie, insbesondere im Bereich des mittelalterlichen Ostseeraums. Rezensiert werden auch die nun veröffentlichten Akten des Amienser Kolloquiums zur Polychromie gotischer Kirchenportale aus dem Jahr 2000. Dieser Querschnitt des aktuellen Wissenstandes betrifft nicht nur die Portalskulptur selbst, sondern auch die Farbfassung von Architekturgliedern und damit die Erscheinung der Bauten insgesamt.

Zwei der besprochenen Bücher widmen sich der Untersuchung genauer umrissener Bauaufgaben: zum einen der konzise Überblick über die Gattung der Burgkapellen in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches von Ulrich Stevens; zum anderen die Studie von Kristina Krüger über die romanischen Westbauten in Burgund, die bei den zwölf einschlägigen Denkmälern nicht nur Einzelwerke und Entwicklungsgeschichte darstellt, sondern an Quellenschriften und Bauten die entscheidende Frage nach der Funktion entwickelt und eine Interpretation der 'galilaea' als Ort monastischer Totenmemoria vertritt. Als 'Bauaufgabe' in einem weiteren Sinne könnte man auch die variantenreiche Gestaltung eines genauer umrissenen Typus der Sakralarchitektur betrachten: wenn Ulrike Gentz über den Hallenumgangschor in der städtischen Backsteinarchitektur Mitteleuropas handelt, zielt sie auf eine bauanalytische Erklärung der verschiedenartigen Grundriss- und Aufrisslösungen und darüber hinaus auf entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge.

Die Gattung der Baumonographie behauptet nach wie vor ihren Stellenwert. Strikt monographisch und in der klassischen Manier der Bauforschung angelegt ist die Studie von Katja Hillebrand über das Dominikanerkloster in Prenzlau. Züge baumonographischer Untersuchungen hat eigentlich auch Jens Reiches Buch, das sich unter dem Titel 'Architektur und Bauplastik in Burgund um 1100' den Kirchen von Notre-Dame in Gourdon und Mont-Saint-Vincent zuwendet. Reiche verfolgt dabei aber auch allgemeinere Fragestellungen nach den beteiligten Werkstätten und den Wechselbeziehungen zwischen Bauten des 'hohen' Stils und den eher randständigen Werken. Monographischen Anspruch erhebt außerdem Renate Prochnos Habilitationsschrift über die Kartause von Champmol, welche insbesondere die umfassende Rekonstruktion der Anlage nach Befunden und Quellenaussagen bietet. Da es sich um eine herrschaftliche Klosterstiftung und Fürstengrablege handelt, konzentriert sich unsere Rezensentin vor allem auf den Problemkreis der adeligen Memoria und der auch in Champmol schwierigen Abgrenzung zwischen den machtpolitischen und den religiösen Komponenten des Totengedenkens.

Memoria - das ist auch der inhaltliche Anker, der es Stephan Albrecht erlaubt, zwei unter typen- oder stilgeschichtlichen Aspekten völlig disparate Baukomplexe gemeinsam zu behandeln: die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis. In der Zusammenschau von historischen Umständen, Memorialbildern, inszenierten Legenden und bedeutungsträchtigen Architekturformen erschließen sich neue Einsichten in das spannungsreiche Verhältnis von monastischer Tradition und Erneuerung.

Einiges Beharrungsvermögen behaupten die Ordnungskriterien und Betrachtungsweisen der vielfach in Frage gestellten Stilgeschichte, wobei klar zu erkennen ist, dass die einstmals damit verbundenen Parameter der völkisch-nationalen Identitätsstiftung und einer gleichsam überpersönlich wirksamen anonymen Macht, der die Baumeister jeweils gerecht werden mussten, mittlerweile endgültig verabschiedet sind. Agnès Bos legt bei ihrer Studie über die Flamboyant-Kirchen von Paris neben der katalogartigen Erfassung der Denkmäler ein Schwergewicht auf personelle und institutionelle Verhältnisse sowie auf die Organisation der Bauhütten. Marc Carel Schurr, der eine neue zusammenfassende Studie über Peter Parler vorlegt, geht es in seinem engagierten Eintreten für eine 'moderne Stilanalyse' darum, die formanalytische Untersuchung spezifischer Gestaltungsweisen als zentrales Erkenntnismittel der Architekturgeschichte zu bewahren und mit aktuellen Fragestellungen nach Funktion, Liturgie und politischem Kontext zu verbinden.

Eher im Stile einer kommentierten Literaturanzeige ist die Rezension zur Festschrift für Dethard von Winterfeld gehalten - die ausgewählte Aufsatzsammlung des Jubilars in der gebührenden Ausführlichkeit zu würdigen, hätte den Rahmen unseres Journals mit Sicherheit gesprengt.

Kenner der Forschungslandschaft rechnen vielleicht noch mit der einen oder anderen Rezension, die im Rahmen dieser Sonderausgabe ebenfalls ihren guten Platz gefunden hätte. Jüngste Studien über die liturgischen Aspekte spätmittelalterlicher Choranlagen oder über Bildsprache und Zeremoniell am Dom von Monreale zum Beispiel hätten wir gerne aufgenommen. Aus betriebsbedingten äußeren Gründen werden diese und andere Beiträge aber erst in späteren Ausgaben unseres Journals erscheinen. Denn eines steht fest: Publikationen zur Architektur des Mittelalters werden auch weiterhin einen wichtigen Schwerpunkt im Programm von KUNSTFORM bilden.

Ulrich Fürst


zur Ausgabe KUNSTFORM 5 (2004), Nr. 5

Empfohlene Zitierweise:

Leonhard Helten: Rezension von: Ulrike Gentz: Der Hallenumgangschor in der mitteleuropäischen Backsteinarchitektur 1350-1500. Eine kunstgeographisch vergleichende Studie, Berlin: Lukas Verlag 2003
in: KUNSTFORM 5 (2004), Nr. 5,

Rezension von:

Leonhard Helten
Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg

Redaktionelle Betreuung:

Ulrich Fürst