Rezension

Julie F. Codell: The Victorian Artist. Artists' Lifewritings in Britain, ca. 1870 - 1910, Cambridge: Cambridge University Press 2003,
Buchcover von The Victorian Artist
rezensiert von Marion Korzilius, Köln

Julie F. Codell untersucht das Phänomen der spätviktorianischen Flut von Künstlerbiographien. Woher rührt dieses gesteigerte Interesse am Leben der Künstler, wie entwickelt sich das Genre der Künstlerbiographie zum literarischen Kompositum und welche strategischen Überlegungen leiten die Autoren? Der Einstieg in die Thematik gestaltet sich mühsam. Codell verliert sich zunächst in einer Unmenge von Zitaten, die sie anschließend paraphrasiert und zusätzlich am Ende eines jeden Gedankens zusammenfasst (17-19). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die veränderte Position des Künstlers innerhalb einer spätviktorianischen Gesellschaft von Kunstkonsumenten. Im Zuge einer neuartigen Massenkultur wird steigender Marktwert zum Indikator für künstlerischen Wert und die Künstlerbiographie zur konventionalisierten Erfolgsgeschichte.

Das erste Kapitel handelt von der Wandlung des Künstlerbildes in der öffentlichen Wahrnehmung. Um traditionell gesellschaftlich verpöntes, kommerzielles Interesse eines Künstlers auszuschließen, wandeln die Autoren in einem genialen Schachzug pekuniäre Beweggründe in transzendentale Motive um. Künstlerbiografien werden homogenisiert auf das Publikum zurecht geschnitten. Zur universellen Eigenschaft wird das Motiv der nationalen Identität, die, anders als der Künstler selbst oder sein Werk, weder ästhetisch noch moralisch debattierbar ist. Anhand der Beispiele von Rossetti und Turner dokumentiert Codell die beeindruckende biografische Manipulation der Künstlerleben und die gleichzeitige Erschaffung sozialer Rollenmodelle. Auch die literarisch geprägte Vorstellung vom Atelier als Sündenpfuhl wird korrigiert: Die Arbeitsstätte des Künstlers mutiert zur Metapher für dessen Tugenden, zur Stätte seiner Kreativität, die sich dort in unermüdlicher geistiger und körperlicher Arbeit manifestiert. Codell gibt jedoch zu bedenken, dass entsprechende Atelierfotos die Künstler in den seltensten Fällen tatsächlich bei der Arbeit zeigen. Mit beabsichtigter Distanz zum handwerklichen Herstellungsprozess posieren sie in edlem Zwirn vor ihren Werken, lediglich anhand der Attribute Pinsel und Palette als Künstler erkennbar, oder lassen sich gar in ein Buch vertieft und von ihren Bildern abgewandt fotografieren.

Im folgenden Kapitel erläutert Codell biografische Erzählstrategien und die Entwicklung einer in drei Darstellungsformen gegliederten Künstlertypologie: Von viktorianischen Autoren verfasste Biografien von Hogarth und Reynolds ordnet sie dem Typus des autochthonen Künstlers zu, dessen Haupteigenschaft darin besteht, einen Bruch mit der Kunst des Kontinents herbei geführt zu haben. Der autochthone Künstler wird zum Begründer einer rein englischen Kunst und damit zum Urheber einer nationalen Identität. Der von Ruskin favorisierte zweite Künstlertypus hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass er mit kindlicher Naivität und genialer Kreativität instinkthaft allein an der Produktion seiner Kunst und nicht an deren Vermarktung interessiert ist. Staatliche Kontrolle - so Ruskin - soll ihn im Rahmen eines neofeudalistischen Systems davor schützen, den Wechselspielen des freien Marktes ausgeliefert zu sein. Codell bezeichnet diesen idealisierten Künstlertypus als "prelapsarian", sich vor dem "Sündenfall" kommerzieller Überlegungen befindend (80). Die dritte Eigenform, der Berufskünstler, hingegen erlangt gerade durch seine Beteiligung am Wirtschaftsleben die Legitimation als zeitgemäßes Mitglied der viktorianischen Leistungsgesellschaft. Seine Absichten bleiben dennoch ideal, da er mit seiner Kunst einen Beitrag zum Erhalt der Vormachtstellung Englands in Europa leistet. Weibliche Künstler müssen sich innerhalb dieser Kategorie gegen den anhaltenden Vorwurf der Amateurhaftigkeit wehren.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Charakter der Autobiografie. Anhand populärer historischer Modelle, wie Vasaris Viten oder Cellinis Memoiren, wird eine Genealogie konstruiert, die den spätviktorianischen Künstler-Autor zum legitimen Erben der Renaissancekunst werden lässt. Im res gestae Stil, mit zahlreichen Abschweifungen, Klatsch und Tratsch, und einer Fülle strategisch platzierter Anekdoten wird ein Flickwerk aus vergangenen Ereignissen, Reisen, Freundschaften und Abenteuern montiert. Am Beispiel von William Holman Hunt, der offen seine zentrale Stellung innerhalb der britischen Kunstgeschichte einfordert, den Mythos des leidenden Genies aufrechterhält, gleichzeitig auch erfolgreicher Unternehmer ist, erläutert Codell anschaulich die widersprüchlichen Rollen, die Künstler-Autoren nach Cellinis Vorbild einnehmen (138-139). Mit der einfühlsamen Untersuchung der Autobiografien viktorianischer Künstlerinnen wie Howitt, Jopling, Canziani, Ward und Butler folgt eine der besten Passagen des Buches. Schwach hingegen die allzu kurzen Ausführungen zu "jouissance" in der speziellen Erotik des Klatsches. (167-168). Das von Lacan für die Psychoanalyse entwickelte Konzept der "jouissance" wurde von Roland Barthes in die Literaturtheorie eingeführt [1]. Er wird mit keiner Silbe erwähnt.

Die Familienbiografie ist Thema des vierten Kapitels. Codell erläutert das innewohnende Konfliktpotenzial eines Autors, der, mit der ihm als Familienmitglied eigenen Autorität, intimes Wissen weniger zur wahrheitsgetreuen, als vielmehr zur sympathischen Darstellung des Künstlers nutzt. Ein ebenfalls nur scheinbar objektiver Paratext aus Fotos dokumentiert die Rolle des Künstlers als typisch englischer Paterfamilias innerhalb einer konventionellen häuslichen Ordnung, sein soziales Netzwerk und seine wirtschaftlichen Erfolge. Die Bilder mit Ehefrau und Kinderschar dienen darüber hinaus als Beweis seiner "Normalität" und widerlegen hartnäckige Gerüchte über eine latente Homosexualität in Künstlerkreisen. In einer äußerst fragwürdigen Interpretation der ihrer Meinung nach extrem unvorteilhaften, von John Guille Millais jedoch als "The Best Photograph of Millais" betitelten Abbildung (200) führt Codell in diesem Zusammenhang die angebliche Inkongruenz von Titel und Foto auf Spannungen in der Vater-Sohn-Beziehung zurück. Vorzüglich hingegen ihre Erläuterungen zu Georgiana Burne-Jones, die den Charakter ihres Mannes in den hagiographischen "Memoirs" mystifiziert und König Artus, Ruskin und Rossetti kurzerhand zu seinen wirklichen, weil geistigen Vätern macht (186ff).

Erst im fünften Kapitel widmet sich Codell der Definition der Anekdote. Reichlich spät, nachdem der Begriff nun schon seit über zweihundert Seiten Bestandteil ihrer Ausführungen ist. Es folgt ein Sprung zu Vasaris Viten, die den viktorianischen Biografen zur Rekrutierung verschiedener Grundmotive dienen. Ausführlich behandelt Codell in diesem Zusammenhang die Redgrave-Brüder, deren Sammelbiographie Künstler in Vasari-Manier an ihrer Bedeutung für die nationale Kultur und die typisch englische Kunst misst. 1859 veröffentlicht die Amerikanerin Elizabeth Ellet die Sammelbiographie "Women Artists in All Ages and Countries". Codell sieht darin eine Reaktion auf die extrem fremden- und frauenfeindliche Darstellung der Redgraves, der sogar Angelica Kauffmann, Gründungsmitglied der von ihnen hoch gelobten Royal Academy zum Opfer fällt, übersieht aber unglücklicherweise, dass die Redgrave-Biographien erst im Anschluss an Ellet erscheinen, nämlich 1866 (233). Die Nachfolger der Redgraves ordnen die Individualität der Künstler ebenfalls dem Anspruch der kollektiven, nationalen Kunst der Englischen Schule unter. Zeitgleich entsteht ein neuer Markt, dessen Vielfalt Codell ausführlich beschreibt: biografische Handbücher, die Objektivität beanspruchen, Zeitschriften, die neben Kurzbiographien und Interviews die neusten Auktionsergebnisse veröffentlichen, Verlage, die Miniaturbiographien für kunstinteressierte Laien und Luxusausgaben für den Connaisseur herausbringen.

Anhand der Biografien von Turner, Watts und Leighton illustriert Codell im abschließenden Kapitel die Wandlung des Künstlers vom Bohèmien zum Wohltäter. Durch Schenkungen oder in der Überlassung des Ateliers als Museum signalisiert er seine Teilnahme an reziproken sozialen Bindungen. Gleichzeitig wird im Akt des Verschenkens, von Handel und Verkauf befreit, seine Kunst letztlich unbezahlbar. Indem er großzügig, idealistisch und sozial engagiert auf finanziellen Profit verzichtet, gleichzeitig aber den Fortbestand seines Ruhms sichert, gelingt ihm ein Geniestreich.

Julie F. Codell dokumentiert auf beeindruckende Weise, dass sie aus einem enormen Wissensvorrat schöpft. Mit den insgesamt siebenunddreißig Abbildungen ist das Buch zudem ansprechend illustriert. Ärgerlich sind Schwächen im Detail: Die Untersuchung von Ernst Kris und Otto Kurz "Myth, Magic, and Legend in the History of the Artist: A Historical Experiment", die sie als grundlegend für ihre Ausführungen bezeichnet, wird in der Einleitung auf 1934 datiert (15), in der Bibliografie hingegen auf 1979 (362) [2]. Auch der Lapsus, der George Vertue plötzlich zu "George Virtue" werden lässt (211, 237), wäre vermeidbar gewesen. Dennoch: Trotz einiger "Schönheitsfehler" ein erstaunliches Buch, mit dem Codell der Entwurf einer faszinierenden "Biografie der Künstlerbiografien" gelingt.

Anmerkungen:

[1] Roland Barthes: Le plaisir du texte. Editions du Seuil. Paris 1973.

[2] Originalausgabe: Ernst Kris und Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Krystall Verlag. Wien 1934. Codell arbeitet mit der englischen Übersetzung von 1979, was leider anhand ihrer Bibliografie nicht erkennbar ist. Folgende Angaben wären zu ergänzen: Translated from the German by Alastair Laing and revised by Lottie M. Newman. Preface by E. H. Gombrich.


Marion Korzilius

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Empfohlene Zitierweise:

Marion Korzilius: Rezension von: Julie F. Codell: The Victorian Artist. Artists' Lifewritings in Britain, ca. 1870 - 1910, Cambridge: Cambridge University Press 2003
in: KUNSTFORM 5 (2004), Nr. 3,

Rezension von:

Marion Korzilius
Köln

Redaktionelle Betreuung:

Ekaterini Kepetzis