Rezension

Jörn Garleff: Die Ecole des Beaux-Arts in Paris. Ein gebautes Architekturtraktat des 19. Jahrhunderts, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2003,
Buchcover von Die Ecole des Beaux-Arts in Paris
rezensiert von Stefanie Lieb, Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Die Ecole des Beaux-Arts in Paris ist für das 19. Jahrhundert vor allem als renommierte Stätte der klassischen Architekturausbildung bekannt, Namen wie Quatremère de Quincy und Viollet-le-Duc werden mit ihr in Verbindung gebracht. Hier wurden bis zur Reformierung des Lehrprogramms 1863 die Dogmen des Klassizismus gepredigt, die man in der antiken römischen und vor allem der wiederentdeckten griechischen Baukunst Ursprung und Ideal aller Architektur verwirklicht sah.

Jörn Garleff beschäftigt sich in seiner Dissertation nun erstmalig gründlicher mit dem Gebäude, dass diese Dogmen beherbergte und ist auf eine vermeintliche Diskrepanz gestoßen: Das klassizistische Ausbildungssystem entspräche nicht den architektonischen Grundsätzen, nach denen der Neubau der Schule unter Félix Duban ab 1832 entstanden sei, da hier bereits ein neues relativistisches Geschichtsmodell (also "historistisches") baulich umgesetzt worden sei (58). Das Bauprogramm der Ecole des Beaux-Arts sei als pädagogischer Lehrplan für Architekten und Denkmalpfleger der damaligen Zeit zu lesen und aus einem dreistufigen "archäologischen" Schichtenmodell zusammengestellt: Die erste Schicht der Grundrisse sei an der Antike orientiert, die zweite Schicht der Hoffassaden berufe sich auf italienische Architekturen von Antike und Renaissance und die dritte Schicht der Ausstattungs- und Dekorationselemente widme sich den nationalen französischen Epochen der Gotik und Renaissance (60, 310, 311). Somit könne man das Bauwerk der Ecole des Beaux-Arts als ein gebautes Architekturtraktat des 19. Jahrhunderts verstehen.

So weit so gut; diese These scheint anfänglich Produktives zu versprechen, im Verlauf der Arbeit werden jedoch die Nachteile einer allzu doktrinär gesetzten Fragestellung deutlich. Denn es gilt natürlich die symbolträchtige und teilweise auch pädagogisch konnotierte Bedeutung der historischen Bauform im Historismus des 19. Jahrhunderts generell zu berücksichtigen, die genau in dieser Zeitphase um 1830 relevant zu werden beginnt. Hinzu kommt die Tendenz zur Verwissenschaftlichung und Musealisierung, die die ästhetische Gestaltung der Architektur dieser Zeit bestimmt. Demzufolge wäre einigen Bauwerken des Historismus, vor allem auch Museen, ein allgemeiner "Traktatcharakter" zuzusprechen. Denn viel mehr als einen allgemeinen Hinweis auf architekturhistorische Epochen mit entsprechenden Artefakten für Ausstattung und Ausstellung kann auch der Baukomplex der Ecole des Beaux-Arts nicht bieten. Dass die Programmatik des Schulbaus die Schüler inspiriert habe, "sich mit den historischen Leistungen der verschiedenen Epochen auseinander zu setzen, sich der Tradition bewusst zu werden, um schließlich in der Begegnung mit den funktionalen Anforderungen der eigenen Zeit eine eigene zweckmäßige Lösung für das jeweils gestellte Problem zu finden" (311/ 312), ist auf jeden Fall nachvollziehbar, aber die Ecole als "steingewordenes Theoriegebäude" interpretieren zu wollen, ist vielleicht doch etwas zu konstruiert, auch wenn als "Beleg" noch Léone Reynauds "Traité d'architecture" von 1858 hinzugezogen wird (62-79).

Aber so gravierend schadet diese anfänglich gesetzte These den weiteren Ergebnissen gar nicht, denn was ihr folgt, ist eine gründlich recherchierte Baumonographie. Jörn Garleff rekonstruiert chronologisch gegliedert die einzelnen Bauphasen von den Anfängen im Musée des Monuments Français um 1800 über die Neubauten unter François Debret, Félix Duban und Ernest Coquart von 1819 bis 1871 bis schließlich zu den Ausbauplanungen im 20. Jahrhundert. Den jeweiligen Zeitabschnitten stellt er einen politikgeschichtlichen Abriss Frankreichs sowie eine "Ideen- und Institutionengeschichte" voraus, die den Leser sehr hilfreich über das Umfeld informiert. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Planungen und Bauten des Architekten Félix Duban, der 1996 in einer Pariser Ausstellung gewürdigt worden ist [1] und dessen Bautätigkeit an der Ecole des Beaux-Arts bereits David van Zanten 1978 und Catherine Marmoz 1982 bearbeitet haben. [2] Garleff knüpft an diese vorliegenden Ergebnisse an und ergänzt sie durch viele weitere Quellenangaben, Details und qualitätvolle, teilweise farbige Abbildungen. Die Gesamtstruktur der Grundrisse leitet er vom antiken römischen Portikus der Octavia ab, die ein Studienprojekt Dubans darstellte; in den Fassaden legt er die Motive und auch Spolien aus unterschiedlichen Jahrhunderten inklusive ihrer genauen Herkunft offen, die den Studenten als Anschauungsmaterial gedient haben können. Auch die ehemalige Innenausstattung der Räume mit zum Beispiel der Antikensammlung des Musée des Monuments Français oder den Kopien von Michelangelos Medici-Grabmälern kann Garleff anhand der Auswertung vorliegender Verzeichnisse genau nachzeichnen.

Zusammenfassend eine beachtliche umfangreiche Baumonografie zur Ecole des Beaux-Arts mit neuen Erkenntnissen, die stellenweise ein wenig an der Detailfreudigkeit der zitierten Quellen krankt, dafür dann aber als Nachschlagewerk umso nützlicher sein kann.


Anmerkungen:

[1] Sylvain Bellenger u. Françoise Hamon (Hrsg.): Félix Duban 1798-1870. Les couleurs de l'architecte. Ausstellungs-Katalog Paris 1996.

[2] David van Zanten: Félix Duban and the Buildings of the Ecole des Beaux-Arts 1832-1840. In: Journal of the Society of Architectural Historians, Oktober 1978, Vol. XXXVIII, No. 3, 161-174. - Catherine Marmoz: The Building of the Ecole des Beaux-Arts. In: Robin Middleton (Hrsg.): The Beaux-Arts and Ninetheenth-Century French Architecture. London 1982, 125-137.


Stefanie Lieb

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Empfohlene Zitierweise:

Stefanie Lieb: Rezension von: Jörn Garleff: Die Ecole des Beaux-Arts in Paris. Ein gebautes Architekturtraktat des 19. Jahrhunderts, Tübingen: Ernst Wasmuth Verlag 2003
in: KUNSTFORM 5 (2004), Nr. 10,

Rezension von:

Stefanie Lieb
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln

Redaktionelle Betreuung:

Ekaterini Kepetzis