Rezension

Andreas Bühler: Kontrapost und Kanon. Studien zur Entwicklung der Skulptur in Antike und Renaissance, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002,
Buchcover von Kontrapost und Kanon
rezensiert von Peter Gerlach, Institut für Kunstgeschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen

Der Inhalt ist brisanter als der Titel. "Studien zur Entwicklung der Skulptur" klingt altbacken. Der Inhalt ist es nicht. Was auf den ersten Blick nach einer typenkritischen katalogmäßigen Abhandlung klingt, von denen Archäologie und Kunstgeschichte zahlreiche kennen, erweist sich schon beim Blick ins Inhaltsverzeichnis als eine Geschichte der Semantik zweier Begriffe.

Geschichte schreiben ist immer wieder eine Erzählung von scheinbar geläufigen Zusammenhängen und Einzelheiten. Einzelheiten stellen sich dar als niedergeschriebene Meinungen zu Sachverhalten. Meinungen schlagen sich nieder in der Einbindung von Sachbegriffen in Beobachtungen an Kunstwerken. "Kanon" und "Kontrapost" tragen das Flair von Regelbegriffen an sich über die es kaum einen Dissens geben könnte. Das Gegenteil wird in dem vorliegenden Buch nachgezeichnet. Insofern erweist sich die Geschichte eines Begriffs als die Geschichte der Meinungen über ihn.

Ein Blick in die einschlägigen Handbücher und Lexika oder ins Internet (google und metager ergeben zu "Kanon" immerhin über 8000 Einträge, zu "Kontrapost" noch circa 300) lehrt, dass zwar eine literaturhistorische Dimension bei Kanon überwiegt, dass aber eine nähere geschichtliche Differenzierung völlig ausgeblendet bleibt.

Der Begriff "Kanon" ist in der Geschichte der Skulptur mit dem Namen des griechischen Bildhauers Polyklet verbunden. Verbunden ist er ebenso mit der akademischen Kunstausbildung. Dort bezeichnet er ein Regelwerk von ästhetischen Minima: Maße, die zur Herstellung von ästhetisch Gefälligem mindestens anzuwenden sich schickt. Verbunden ist er aber ebenso mit der Vorstellung von Klassizismen.

Die Geschichte der Kanones von Ägypten bis zum 20. Jahrhundert (Le Courbusier) - abgesehen von den orientalischen und asiatischen - ist mehrfach geschrieben und in vielen Einzelheiten durchleuchtet worden. Panofsky (1921), Ghylia im Buch von 1927 bis zu Braunfels et al. 1973 haben uns eine Überblick zu verschaffen unternommen. Im Kunstforum Band 162, 2002 wurde kürzlich erst das neuere metaphorische Umfeld des Begriffes befragt.

Die Spezialuntersuchung von Hiller (1965), Steuben (1973) und wenige Jahre später die Erträge einer Tagung anlässlich der Ausstellung im Liebieghaus in Frankfurt 1990 klärten unsere Vorstellung vom Kanon des Polyklet. In diesen Texten spiegelt sich der seit Falconet (1781) nicht mehr abgebrochene Streit um die Deutung des wenigen, was bereits Franciscus Junius 1637 zusammengestellt hatte. Mehr ist es nicht geworden, zumindest bei den literarischen Quellen. Vermehrt haben sich indessen die denkmalhistorischen Argumente.

Das indessen ist im vorliegenden Buch nur ein unerlässlicher Hintergrund. Die eigentliche Entdeckung der Forschungslücke, der nie erzählten Geschichte ist die des Begriffes vom "Kontrapost". Der Rezensent kann nicht verleugnen, dass es eine Überraschung bleibt, dass dieser Begriff zwar in jedem einschlägigen Lexikon aufzufinden ist, seiner durchaus komplexen Entstehungs- und Verwendungsgeschichte indessen noch nie nachgegangen wurde. Die Vorgeschichte wird nach Hiller (1965) referiert. Die Diskussion um den Kanon des Polyklet besteht in weiten Teilen ebenso aus dem Referat der aktuellen Diskussion von Hiller (1965) bis zu Herzog (1990) und Gauer (1998). Den Zusammenhang von Kanon und Kontrapost sieht der Autor so: "Es ist [...] die Duplizität des Maßbegriffs, welche heute zu intensiver Beschäftigung mit dem Begriff des Kontrapostes veranlasst. Denn der Kontrapost hat einerseits [...] einen reinen Zahlenaspekt und er verkörpert andererseits auch eine zugehörige Lebenseinstellung, welche sich wiederum im Doryphoros als der Regel des Kontrapostes spiegeln muß." (28).

Maße und Bewegungsbild der menschlichen Gestalt stehen damit in Rede. Mit anderen Worten geht es um die Konstruktion eines Bildes vom lebendigen Menschen mit besonderen Eigenschaften: dem von kriegstüchtigen Athleten. Eine erste Überraschung ist die Feststellung, dass in der antiken Literatur der Begriff "Kontrapost" nicht existierte. Das Kapitel über die antike Kunsttheorie erschließt indessen eine Fülle von Begrifflichkeiten (decorum, antithesis, symmetria, imaginatio etc.), die der Renaissance zur Verfügung standen. 1681 führte Baldinucci in seinem "Vocabulario Toscano dell'arte del disegno" den Begriff erstmalig auf. Dort bedeutet er aber nichts weiter als "[...] einen nicht näher definierten Gegensatz" (91). 1675 beschrieb Sandrart in seiner "Teutschen Academie [...]" das, was bereits seit dem Bronzedavid des Donatello in der Renaissancebildhauerei praktiziert wurde unter dem Begriff des "Wol-Stand". Dieser Begriff wird fassbar mit seinem Gegenbegriff vom "Ubelstand" (was zugleich gegen den gotischen Hüftschwung formuliert worden war). Erst nach Winckelmann kommt bei A. R. Mengs (um 1760, gedruckt 1843) jene spezifische Semantik hervor, die in der deutschen Fachsprache seit Lange (1899) noch immer gültig ist. Er wird in den romanischen durch "ponderazione" (etwa bei Milizia 1785) vertreten, seit Flaxmann (1829) ist im englischen der Begriff "counterpoise" geläufig.

Über eine längere Passage hat sich der Autor mit den mehr metaphorischen Verwendungen in einer schier bis zur Bedeutungslosigkeit ausufernden Übertragung des Begriffs vom Kontrapost auf alle möglichen Standmotive von Skulpturen auseinander zu setzen. Das reicht vom "gotischen Schwunge" und seinen Varianten bis hin zu den verschiedenen Stufen der Antikenrezeption in der italienischen Bildhauerei von Pisano bis Donatello. Einen klassischen, dem griechischen Vorbild vollkommen entsprechenden Kontrapost weist dessen Hl. Markus (1411-15) auf. Die vergleichende Beschreibung einer Reihe von Statuen der Folgezeit führt den Autor zur Analyse von möglicherweise angewandten Maßsystemen bei der Proportionierung und der Verwendung einer kontrapostischen Komposition. Mit Michelangelos Einführung der "figura serpentinata" als einem Spiel mit dem Kontrapost wird deutlich, wie sehr das Bemühen um eine Suggestion von Lebendigkeit seine künstlerische und theoretische Arbeit bestimmte. Die Betrachtung weiterer Werke der manieristischen Skulptur von Sansovino bis Vincenzo Danti belegt die Verwendung eines spezifischen modularen Proportionssystems in der künstlerischen Praxis, die der Kunsttheorie von Ghiberti bis Lomazzo die Begründung des Zusammenhanges von Proportionssystemen mit dem des Kontrapostes (in der Erweiterung als "figura serpentinata") als untrennbare Einheit.

Erfreulich ist, dass in allen Abschnitten die originalen Textpassagen in aller Ausführlichkeit abgedruckt worden sind. Dass in den "Zusammenfassungen" am Ende jeden Kapitels allerdings zum Teil gleich lautend nochmals viele der zuvor niedergeschriebenen Überlegungen wiederholt wurden, mag manchem Leser als unnötige Ausweitung des Umfanges erscheinen. Im abschließenden Bildteil sind alle genannten Statuen als Fotografie abgebildet und zuvor meist in mehreren Ansichten mit einem Proportionsraster in Umrisszeichnungen wiedergegeben, wobei manche dieser Zeichnungen allerdings etwas sehr groblinig ausgefallen sind. Das aber macht ein ständiges Vorurteil gegen Proportionsbestimmungen an Kunstwerken erst recht sichtbar: Die Messpunkte sind kaum anatomisch genau bestimmbar und erscheinen als eine meist an Willkür grenzende Schätzung.


Peter Gerlach

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Empfohlene Zitierweise:

Peter Gerlach: Rezension von: Andreas Bühler: Kontrapost und Kanon. Studien zur Entwicklung der Skulptur in Antike und Renaissance, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2002
in: KUNSTFORM 4 (2003), Nr. 9,

Rezension von:

Peter Gerlach
Institut für Kunstgeschichte, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle