Rezension

Stephanie Buck: Die niederländischen Zeichnungen des 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog, Turnhout: Brepols Publishers NV 2001,
Buchcover von Die niederländischen Zeichnungen des 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett
rezensiert von Peter Schmidt, Kunstgeschichtliches Institut, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt eine der exquisitesten Sammlungen altniederländischer Zeichnungen. Mit Vollständigkeitsanspruch wurden sie erstmals 1930 in dem vom Pionier der Altniederländerforschung Max J. Friedländer herausgegebenen und von Bock und Rosenberg bearbeiteten Katalog der Blätter des 15.-18. Jahrhunderts erfasst. Die Forschung zur altniederländischen Kunst ist seither jedoch in großen Schritten vorangekommen. So ist es nur folgerichtig, dass nach den Katalogen der Zeichnungen von Rubens (1977), Dürer (1984) und der italienischen Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts (1995) nun ein Verzeichnis der Altniederländer des Berliner Kupferstichkabinetts erscheint, das den aktuellen Anforderungen eines wissenschaftlichen Bestandskataloges entspricht.

Die Forschung der letzten Jahrzehnte zur niederländischen Zeichenkunst spielte sich zum einen verstreut in den Werken zur Buch- und Tafelmalerei ab, neuerdings vermehrt auch in den Publikationen zu Unterzeichnungen, zum anderen in wichtigen Bestands- und einigen Ausstellungskatalogen. Wichtige Monografien sind nur zwei zu nennen - Pophams Pionierwerk von 1926 zur frühen flämischen Zeichnung und Sonkes Band über die Zeichnungen der "Groupe Van der Weyden" von 1969. Die Blätter des Berliner Kabinetts spielen in diesen Arbeiten eine wichtige Rolle. Qualität und Spektrum des Bestandes machen einen gut kommentierten Katalog wie den vorliegenden gleichzeitig zu einem Überblickswerk über die Anfänge der niederländischen Zeichenkunst.

Zu den grundlegenden Entscheidungen eines Bestandskatalogs gehört die Anordnung des Materials. Hier lohnt ein vergleichender Blick auf den Berliner Katalog der italienischen Zeichnungen von Schulze Altcappenberg, der zunächst die "bedeutenden Zeichnungen" als einführendes Kapitel zur Zeichenkunst der frühen Renaissance in Italien präsentiert, um den Rest in einer zweiten Abteilung als reines Verzeichnis abzuhandeln, in welchem er regionale "Schulen" (sic, diesen musealen Begriff) als Ordnungsgerüst verwendet. Buck dagegen verzichtet auf eine solch unübersichtliche qualitative Zweiteilung und bildet Gruppen um einzelne Künstler, Werkstattkomplexe und Kunstzentren, die soweit wie möglich chronologisch angeordnet werden, aber als lockere "interpretative Ordnung" (15) aufgefasst sind, die Bezüge der Gruppen untereinander sichtbar werden lässt. Ein ausführliches Register (das Fehlen eines solchen hat man beim Katalog der italienischen Zeichnungen - dort nur ein Künstlerverzeichnis - als bedauerlich empfunden) ermöglicht es dem Leser, das Material dennoch nach verschiedenen Kriterien zu erschließen. Ausführlich besprochen werden in eigenen Nummern auch die Blätter, die ausgeschieden wurden, das heißt nach 1500 entstandene Kopien nach Vorlagen des 15. Jahrhunderts und Blätter, die heute dem 16. Jahrhundert oder anderen Ländern zugewiesen werden (Teile II-V).

Beim Aufbau der einzelnen Katalognummern ist wohltuend, dass sich die Verfasserin dem in so vielen Bestandskatalogen spürbaren musealen Zwang, in den Kopfzeilen des Eintrags eine Datierung anzugeben - obwohl das bei Werken dieser Art meist die unsicherste aller Informationen ist - nicht unterworfen hat. Vielmehr machen die von ihr geführten Stildiskussionen deutlich, dass dies nur das Ergebnis komplexer Argumentationen, teils mit unsicherem Ausgang, sein kann und keineswegs die erste Angabe, mit welcher der Leser (oder Betrachter musealer Beschriftungstäfelchen) in falsche Sicherheiten gewiegt wird. Die detaillierte materielle Beschreibung umfasst neben dem Zustand auch die Wasserzeichen. Leider sind diese ohne direkte Vergleichsdatierungen nach den Verzeichnissen von Piccard beziehungsweise Briquet angeführt, meist aber fließen sie in die Diskussion der Datierung ein (manchmal an untergeordneter Stelle, zum Beispiel Kat. I.9, Kreuzigung aus dem Rogier-Umkreis, wo selbst kostümgeschichtliche Details - bei einem Rogieresken Motivpasticcio wie diesem ein untaugliches Mittel - als Datierungsargumente angeführt werden, während man die Paralleldatierungen der Wasserzeichengruppe nur mühsam in einer Fußnote versteckt finden kann). Dankbar ist der Leser für die ausführlichen Literaturangaben, die mit kurzer Nennung der jeweiligen Zuschreibung oder/und Datierung einen schnellen Überblick über die Forschungspositionen ermöglichen.

Hervorzuheben ist aber zunächst das einführende Kapitel, dessen Titel "Die niederländische Zeichnung im 15. Jahrhundert" nicht nur eine kurze Charakterisierung von Technik und Ikonografie anhand des repräsentativen Berliner Materials folgt, sondern auch - keineswegs üblich für Werke dieser Art - eine Darlegung der methodischen Grundlagen und Probleme der Zuschreibung und Datierung. Hier wie auch in den Katalognummern wird deutlich, welchen Anspruch die Verfasserin an die kunstwissenschaftliche Textgattung "Bestandskatalog" stellt. Stilkritik wird auf transparente Beweisführungen, nicht auf kennerschaftliche Urteile gegründet.

Besondere Würdigung verdient die Einbeziehung von Zeichnungstypen und -funktionen in die Analyse (auch dies im Unterschied zum genannten Katalog der italienischen Zeichnungen), womit die Bestimmung von Originalentwürfen und Kopien sowie die teils komplexen Beziehungen zu erhaltenen und verlorenen Gemälden und anderen Zeichnungen eng zusammenhängt. Eine spezielle Art des Vergleichsmaterials stellt die seit einigen Jahrzehnten stetig anschwellende Produktion und Publikation von Infrarot-Reflektogrammen dar, die Unterzeichnungen von altniederländischen Tafelgemälden dokumentieren. Viele Studien, darunter das vielbeachtete Buch von Asperen de Boer und anderen von 1992 zu den Unterzeichnungen der Gruppen um Rogier van der Weyden und den Meister von Flémalle, rufen aber auf Grund von methodisch allzu freihändigen Vergleichen zwischen Zeichnungen auf Papier und Unterzeichnungen Bedenken hervor. In technischer Zufriedenheit über die neu gewonnenen "Grafiken" werden dabei nur allzu selten die Kriterien für die Vergleichbarkeit grundverschiedener Techniken, Medien und Formate - wie Feder / Silberstift auf Papier hier, Pinsel auf großen grundierten Tafeln dort - reflektiert, von den unterschiedlichen Funktionen im Werkprozess ganz zu schweigen. Naiv ist es, eine von solchen Faktoren unabhängige Künstlerhandschrift anzunehmen, und die Analyse von Unterzeichnungen endet leider oftmals als Rückfall in eine vorgestrige Praxis der Stilkritik. Buck ist sich dieses methodischen Problems durchaus bewusst, obwohl man es später in den Katalognummern gelegentlich wieder vermisst. Wenn etwa bei der Silberstiftzeichnung eines Mannes in Halbfigur (Kat. I.6) Sonkes Vergleich mit der Unterzeichnung des Braque-Triptychons zu Recht kritisiert wird, weil die dort beobachteten Schraffuren allgemeine Formeln bezeichnen, in denen nichts "Handschriftliches" zu erkennen ist, die Unterzeichnungen aber für die Situierung im "engeren Rogier-Kreis" (95) dann doch hinzureichen scheinen, wundert man sich kurz. Man würde sich bei der Behandlung der Unterzeichnungen die gleiche methodische Stringenz wünschen, die Bucks Analysen sonst auszeichnen.

Diese aber überzeugen meist so, dass man über kleine Abschweifungen ins Assoziative hinwegsieht. So etwa bei der unter "Rogier van der Weyden - Werkstatt" geführten Federzeichnung des Pfingstwunders (Kat. I.7), die bislang unter anderen Vrancke van der Stockt (zum Beispiel von Winkler) oder einem Schüler Robert Campins (Thürlemann) zugewiesen worden ist. So wie die Zuschreibungen schwankten bislang auch die Benennungen als Kopie (Winkler) oder Originalentwurf (Thürlemann). Die Lage ist hier besonders kompliziert, da Beobachtungen zu machen sind, die - nähme man sie für sich - Argumente für eine originale Komposition sein könnten (Pentimenti, Kreideentwurf vor der teils abweichenden Federzeichnung), würden sie nicht durch entgegengesetzte Indizien relativiert (eine offenkundig auf ein gemeinsames Vorbild zurückgehende Miniatur und Ungereimtheiten der Komposition, die durch eine missverstandene Vorlage am plausibelsten erklärbar sind). Hier entwickelt Buck nun zwischen den starren Positionen der landläufig negativ konnotierten "Kopie" und dem Originalentwurf eine differenziertere Kategorie, in der sie das Produkt eines "kreativen Kopierprozesses" (99) einordnet. Nach dieser komplexen Analyse einen Haken in die Tradition der freien Assoziation zu schlagen, wenn sie einen zeitgenössisch aufgekritzelten Buchstabens "r" als "Rogier" (100, 102) deutet, wäre nicht nötig gewesen. Etwas mehr methodische Vorsicht würde man sich auch hier bei einem Umgang mit Unterzeichnungen wünschen, bei dem die Kriterien der Vergleichbarkeit nicht abgesteckt werden.

Gerade die elaborierte Kopienkritik ist es, die zu manch neuem Ergebnis führt. So lässt sich Buck nicht von der herausragenden Qualität der delikat modellierten Porträtzeichnung in Silberstift blenden, die bislang an der Bezeichnung als Original (ob aus dem Umkreis des Jan van Eyck, Rogier oder Petrus Christus, Kat. I.4) kaum zweifeln ließ. Qualität allein kann aber kein Argument in der Frage "Entwurf oder Kopie" sein, und so entwickelt die Verfasserin ihre schon an anderer Stelle veröffentlichte Analyse, nach der hier eine Nachzeichnung vorliegen muss. Die Nähe zu den in der unmittelbaren Nachfolge van Eycks arbeitenden Malern beziehungsweise Zeichnern ist offenkundig, doch bleibt die Autorin so ehrlich, bei allen zu Gunsten von Petrus Christus zusammengetragenen Argumenten nicht über die Benennung "Nachfolger des Jan van Eyck (Umkreis des Petrus Christus?)" in der Kopfzeile der Katalognummer hinauszugehen. Die weit schwächere Porträtzeichnung in Silberstift Kat. I.5, ebenfalls in der - kaum näher zu bestimmenden - Nachfolge van Eycks anzusiedeln, wird dagegen im Entwurfsprozess des zugehörigen Gemäldes verortet, das in diesem Fall mit einem Bildnis in der National Gallery in London erhalten ist.

Ohne auf die Fülle weiterer hier versammelter Meisternamen (von wichtigen Werken aus dem Umkreis von Dirk Bouts bis zu zentralen Blättern Hieronymus Boschs) im Einzelnen eingehen zu können, ist zu resümieren, dass hier neben einem Bestandsverzeichnis eine bedeutende Forschungsarbeit vorgelegt wurde. Diese ist auch optisch eine Freude, die zwei Abbildungsteile (in Farbe und schwarz/weiß) sind von hervorragender Qualität, besonders löblich sind die Abbildungen der Wasserzeichen (allerdings in der Reproduktion nicht alle exakt maßstabsgetreu); die Konkordanz der Inventar- (KdZ) und Katalognummern ermöglicht zusammen mit dem Register eine gute Erschließung des Materials.


Peter Schmidt

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Empfohlene Zitierweise:

Peter Schmidt: Rezension von: Stephanie Buck: Die niederländischen Zeichnungen des 15. Jahrhunderts im Berliner Kupferstichkabinett. Kritischer Katalog, Turnhout: Brepols Publishers NV 2001
in: KUNSTFORM 3 (2002), Nr. 11,

Rezension von:

Peter Schmidt
Kunstgeschichtliches Institut, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M.

Redaktionelle Betreuung:

Hubertus Kohle