Rezension

Horst Ziermann: Matthias Grünewald. , München: Prestel 2001,
Buchcover von Matthias Grünewald
rezensiert von Klaus Niehr, Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg

Man befasst sich also wieder mit Grünewald. Lange Zeit war der Maler - so schien es - tabu. Und daran war weniger er selbst schuld, als das, was die Nachwelt mit ihm anstellte. Arg hatte man dem Aschaffenburger Meister mitgespielt, ihn wie kaum einen zweiten - besonders seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts - rücksichtslos für eigene Zwecke missbraucht und dabei so in ein Korsett vorzugsweise nationaler Klischees gepresst, dass der Arme und sein Ansehen noch heute darunter leiden. Versuche einer Rehabilitation auf wissenschaftlicher Grundlage waren demgegenüber meist unspektakulär und gerieten von daher oftmals rasch ins Hintertreffen. Horst Ziermanns Buch, das Werk eines Journalisten, hätte nun die notwendige Operation sein können, die den Patienten endgültig von seiner Krankheit befreite und ihn für ein Leben im 21. Jahrhundert vorbereitete. Doch leider ist es das nicht, oder wenn, dann nur in sehr eingeschränktem Sinn. Denn der Autor, der seine Monographie an ein breites Publikum richtet, gleichwohl aber eine wissenschaftliche Vorgehensweise, gestützt durch knapp 500 Anmerkungen anstrebt, ist nicht in der Lage, sich ausreichend von der unkritischen Faszination zu lösen, die die ältere Forschung immer wieder an den Künstler gebunden hatte. "Unbeschreibliche Wunder" habe der vollbracht, liest man jetzt (S. 150), "hemmungslose Versinnlichung" zeichne seine Gemälde aus (S. 73). Und so erstaunt es niemanden, wenn auch noch 2001 anstelle nüchterner und kritischer Bestandaufnahme die alte Praxis des intuitiven Versenkens vorherrscht, die sich auf die Beschreibung der Bilder und die Rekonstruktion von Zusammenhängen niederschlägt.

Schon das eingangs formulierte Erkenntnisziel ist bedenklich. Grünewalds schmales Oeuvre gilt als Herausforderung, "das Rätsel seines Lebens zu lösen" (S. 35). Eine solche Perspektive kann nur dazu führen das überlieferte Werk übermäßig zu strapazieren und in eine Richtung zu drängen, die auf Entwicklung und psychologische Enthüllung eines Individuums angelegt ist. Da lebt Künstlerbiographie des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts wieder auf, die man längst in der Reservatenkammer historischer Methoden verschwunden glaubte. Aus solchem Zugang erklären sich manche Züge des Buchs: die Suche nach Selbstporträts und Porträts der Zeitgenossen, die Bemühungen, Ereignisse der Jahre um 1500 im Werk Grünewalds wiederzufinden. Nicht umsonst stützt sich der Autor besonders gern auf die alten Künstlerbiographien von Schmid und Zülch, die - bei aller Sorgfalt des Vorgehens - für Legendenbildung reichhaltiges Material bereitstellen. Kritische Einwände, die es ebenfalls früh gab, werden dagegen oftmals nicht beachtet.Schon das auf den ersten Seiten von Ziermanns Buch nach den Quellen geschilderte Leben Grünewalds bleibt in dieser Beziehung hinter dem heutigen Stand der Forschung zurück; die an sich verdienstliche Rekonstruktion der Biographie war durch Karl Arndt 1994 bereits sehr viel präziser und mit der notwendigen kritischen Einstellung zur älteren Forschung dargelegt worden.

Die Einordnung Grünewalds in die Kunst um 1500 gehört auch heute noch zu den großen Abenteuern der Kunstgeschichte. Versucht man es mit den herkömmlichen Stilbegriffen, dann geht es schon gar nicht. So finden wir den Maler im jüngst erschienenen zweiten Band der nationalen Kunstgeschichte von Klotz und Warnke dem Barock zugeschlagen, denn "gotisch" ist er wohl kaum und "richtige Renaissance" gibt es in Deutschland bekanntlich nicht. Sollte also Pinder, der Grünewalds Kunst mit dem Begriff "Protobarock" zu fassen suchte, doch Recht gehabt haben? Ziermann war gut beraten, hier nicht ausdrücklich Stellung zu nehmen; er bedient dafür lieber das andere Klischee, das von den Antipoden Dürer und Grünewald. Der Maler und Graphiker aus Nürnberg betreibe Kunsttheorie, seine Werke atmeten die Kühle rationaler Fundierung; Grünewald aber löse "knittrige Stilisierung" auf, "dass sie im Einklang ist mit dem, was man sieht und wie man es sieht - mit der sogenannten Realität" (S. 190). Dürer steht für Italienisches, Grünewald für das Deutsche; also ist er der Dramatiker, der Mystiker, der Visionär, der tief Gläubige, welcher die Farben wie ein Zauberer einsetzt. Einmal erliegt er sogar der "Faszinationskraft nordischer Frühgeschichte" (S. 116), aber gottlob lässt er sich nur vereinzelt von "fremdländischen Traditionen" mitreißen (S. 122). Man reagiert verstimmt, fragt sich, welches Publikum mit solch holzschnittartigen Gegenüberstellungen und ärgerlichen Platitüden erreicht werden soll. Denn differenziert argumentiert werden kann auf diese Weise nicht. Sicherlich, der Autor gehört zur älteren Generation. Expressionistische Sprache und die Bevorzugung von mittlerweile nicht mehr ganz frischer Literatur mögen mit seiner Sozialisation zu erklären sein.

Natürlich darf er "des Meisters künstlerisches Sinnen" erforschen (S. 150), natürlich darf er über "des Meisters Eigentümliches" räsonnieren (S. 190), dessen "tragisches Finale" und "Aufbruch in den Tod" nachempfinden (S. 196), wenn ihn literarischer Ehrgeiz packt. Aber was hier geschieht, geht über Sprachpflege weit hinaus. Denn diese Sprache ist Transportmittel für ein veraltetes Bild vom Künstler. Hier wird an einem Denkmal gearbeitet, ein Mythos wird fortgesponnen, die Person Grünewald aufgeladen mit numinosen Gefühlen des Rezipienten. Was wir stattdessen brauchen, ist ein radikal neues Grünewald-Bild, eines, das aus dem Blickwinkel unparteiischer Strenge entsteht. Eine moderne Künstlermonographie - sei sie nun populärwissenschaftlich oder nicht - hätte deshalb die Fäden aufzunehmen, die die Forschung der letzten Jahrzehnte knüpfte. Um nur einiges zu nennen: Für die Lindenharter Tafeln liegen von der Bayerischen Denkmalpflege herausgegebene Colloquiumsakten vor (1978); die Münchner Verspottung Christi wurde von Margrit Lurz monographisch bearbeitet (1979); zu Aufbau und Skulptur des Isenheimer Altars hat Christian Heck seit den späten 1980er Jahren mehrfach publiziert; für die Ikonographie und den sozialgeschichtlichen Aussagewert dieses Werks sind die Studien von Andrée Hayum heranzuziehen, die zwischen 1977 und 1993 erschienen; Howard Collinson hat Form und Ikonographie des Abendmahls aus der Sammlung Schäfer untersucht (1986); zu Grünewald in Halle ist Andreas Tackes Buch über die Cranach-Aufträge zu konsultieren (1992). Schließlich sind die kritischen Auseinandersetzungen mit der Forschung zu nennen: die schon genannte Studie von Karl Arndt über den historischen Grünewald (1994) und die Erörterung der Psychologie des kennerschaftlich arbeitenden Wissenschaftlers von Barbara Welzel (1998). Alles das fehlt bei Ziermann, und allein damit ist mehr über die Positionierung seines Buches gesagt als mit jeder Kritik am Detail.

Was bleibt demnach? Die Hoffnung auf eine moderne, Lesbarkeit und wissenschaftliche Akribie verbindende Grünewald-Monographie.


Klaus Niehr

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Empfohlene Zitierweise:

Klaus Niehr: Rezension von: Horst Ziermann: Matthias Grünewald. , München: Prestel 2001
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 3,

Rezension von:

Klaus Niehr
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr