Rezension

Leonie von Wilckens: Grundriß der abendländischen Kunstgeschichte. , Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2000,
Buchcover von Grundriß der abendländischen Kunstgeschichte
rezensiert von Luise Leinweber, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München

Eine zweite Auflage "der Wilckens" ist erschienen. Seit Jahren war der "Grundriß der abendländischen Kunstgeschichte" vergriffen, nun haben Dagmar und Paul von Naredi-Rainer eine überarbeitete und wesentlich erweiterte Ausgabe dieses Klassikers einer tabellenartig verdichteten Kunstgeschichtsschreibung vorgelegt. Damit dürfte - so steht zu erwarten - die Erfolgsgeschichte des Werkes eine Fortsetzung erleben, eine Erfolgsgeschichte, die in der Nachkriegszeit begann.

Damals, Ende der 1940er Jahre, verfasste Leonie von Wilckens (1921-1997) fünf schmale Bändchen zu den Epochen der deutschen, englischen, französischen, italienischen sowie zur niederländischen und spanischen Kunstgeschichte, die im Verlag Bamberger Reiter erschienen. Zwar war der Stoff in tabellenartigen übersichten mehr aufgelistet als ausgebreitet und von keiner einzigen Abbildung begleitet, doch scheint gerade diese Darbietungsform, die übergreifende Gesichtspunkte und innere Zusammenhänge außer Acht lässt, dem Bedarf eines bestimmten Lesepublikums entsprochen zu haben, einem Bedarf, der sich als lang anhaltend erwies, denn gut 15 Jahre nach dem Erscheinen der fünf Bändchen wurde die Verfasserin mit einer Neubearbeitung beauftragt. 1967 legte Leonie von Wilckens dann den "Grundriß zur abendländischen Kunstgeschichte" vor. Schon das Erscheinungsbild dieser Neubearbeitung unterschied sich wesentlich von demjenigen der "Epochen": Aus den fünf dünnen, auf billigem, nicht zerfallsbeständigem Papier gedruckten Heften war ein einziger kompakter, gut 500 Druckseiten starker Band der soliden "Kröner Taschenausgaben" geworden. Auch die Gliederung des Werkes hatte die Verfasserin gründlich revidiert. Im Unterschied zu den nach Ländern geordneten "Epochen" liegt dem "Grundriß" eine zeitliche Ordnung zu Grunde. Wilckens teilt die Geschichte der Kunst des Abendlandes in neun Epochen ein, die, beginnend mit dem frühen Christentum, in chronologischer Abfolge bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dargestellt werden. Jede dieser Epochendarstellungen beginnt mit einem kurzen Abriss der politischen Geschichte sowie der Geistes- und Kulturgeschichte, der nicht mehr ist und nicht mehr sein will als eine knappe Auflistung von Daten und Fakten, die nach Einschätzung der Verfasserin als die Epoche kennzeichnend gelten müssen. Auf den Abriss der Ereignis- und Ideengeschichte folgt dann jeweils die Darstellung der Kunstgeschichte einer Epoche, die Wilckens nach Gattungen (Architektur, Plastik, Malerei, Kunstgewerbe) behandelt. Die Abschnitte zu den Kunstgattungen einer Epoche wiederum sind geographisch gegliedert, nach Ländern oder auch Regionen. Innerhalb dieses Ordnungsschemas vermag der Benutzer mühelos die einzelnen Werke aufzufinden. Den ausgewählten Werken widmet Wilckens je einen Absatz, der Daten und Fakten zum Gegenstand liefert, doch auch stets den Versuch einschließt, die stilistischen Eigenheiten des Werkes kurz und treffend zu benennen. Zwei sorgfältig erstellte Register - eines der Werke und eines der Künstler - sowie eine nützliche Liste von Erläuterungen der Fachausdrücke erschließen dem Benutzer das Buch.

Der "Grundriß" sollte - wie Leonie von Wilckens im Vorwort zur Erstausgabe postulierte - nicht bloß als Nachschlagewerk, als Sachlexikon benutzt, sondern als zusammenhängende Darstellung eines "in sich geschlossenen Ganzen" gelesen werden. Diesem Wunsch der Verfasserin zu entsprechen, fällt indes schwer, da nicht allein die kurzen Abrisse zur Ereignisgeschichte, sondern auch sämtliche Einträge zur Kunstgeschichte nur in Stichworten abgefasst sind und das bloße Nacherzählen singulärer Tatbestände nicht eben zur fortgesetzten Lektüre einlädt. Im Stichwort-Stil des "Grundrisses" ist seine Abkunft von den "Epochen" noch deutlich zu fassen, die in einer Reihe mit dem programmatischen Titel "Tabellenartige überblicke" erschienen waren.

Die Vorzüge des Buches sind schon oft benannt worden. Allein der Versuch, den für die Kunstgeschichte relevanten Denkmälerbestand zu umreißen, zu ordnen und in einem verdichteten überblick zu fassen, wurde immer wieder als verdienstvoll bezeichnet. Auch der "Versuchsdurchführung" wurden stets aufs Neue hohe Qualitäten zugeschrieben: Sie lägen in der klaren, übersichtlichen Darstellung des Stoffes wie auch in der Zuverlässigkeit der einzelnen Einträge. Gewiss, wie nicht anders bei einer solchen Materialmasse zu erwarten, lassen sich hier und da Lücken aufzeigen, da und dort eine unangemessene Gewichtung beanstanden. So vermisste etwa einer der Rezensenten der Erstauflage eine Eintragung für das Tympanon von Beaulieu, das wegen seines Einflusses auf den Entwurf der Westfassade von Saint Denis eine Erwähnung verdient hätte; auch fand er die Skulptur der Kathedrale von Laon nicht hinreichend in ihrer Bedeutung innerhalb der Entwicklung der gotischen Portalplastik berücksichtigt; schließlich mahnte er in dem Eintrag zur Portalskulptur an der Westfassade von Saint Denis eine angemessene Würdigung der romanischen Vorläufer an. Auf dieselbe Weise könnte jeder Fachkollege den "Grundriß" zur Hand nehmen und die Eintragungen zum eigenen Spezialgebiet auf Auslassungen oder Unausgewogenheiten hin durchmustern. Wer sucht, findet! Doch würde man damit der Absicht und der Leistung Leonie von Wilckens' kaum gerecht, denn - wie ein Rezensent der Neuauflage zu Recht bemerkte - das Buch ist weder ein auf Vollständigkeit angelegtes Lexikon noch ein Nachschlagewerk, deshalb sei es müßig, auf nicht genannte Künstler oder Werke fordernd hinzuweisen.

Der anhaltende Verkaufserfolg des Buches, das 1981 noch einmal unverändert nachgedruckt wurde und nun, 33 Jahre nach seinem ersten Erscheinen, in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung vorliegt, legt den Schluss nahe, dass der "Grundriß" nachhaltig dem Bedarf eines bestimmten Lesepublikums entspricht, das sich mit Hilfe eines "Lehrbuches" vorgaukeln möchte, das Fachgebiet Kunstgeschichte zähle wohl doch zu den "Handbuchwissenschaften". Mutmaßlich setzte und setzt sich der Käuferkreis weniger aus Fachwissenschaftlern als vielmehr aus Studierenden der Kunstgeschichte zusammen, die vor ihrer Abschlussprüfung ein Gerüst von abzufragenden Daten im Kurzzeitgedächtnis speichern mussten beziehungsweise müssen. Treffend bemerkte daher Jutta Zander-Seidel in ihrem Nachruf auf Leonie von Wilckens, dass der "Grundriß" für Generationen von Kunsthistorikern "zum Vademecum" geworden sei. So stellte denn auch eine Kollegin der Rezensentin ihr Exemplar der Erstauflage zur Verfügung, das jene unverwechselbaren Gebrauchsspuren trägt, die eine gründliche Examensvorbereitung in Büchern hinterlässt.

Dank der erweiterten Neuauflage können die nachwachsenden Generationen von Examenskandidaten jetzt auch Daten und Fakten zur Kunst des 20. Jahrhunderts "auswendig lernen". Es ist das unbestreitbare Verdienst der beiden Bearbeiter, Dagmar und Paul von Naredi-Rainer, das Kapitel über das vergangene Jahrhundert weitgehend neu geschrieben zu haben. Im Wilckensschen "Grundriß" war das 20. Jahrhundert nur in seinen Anfängen berücksichtigt, in der Neufassung ist auch die Kunst bis an die Schwelle zur Gegenwart Gegenstand der Darstellung. Den klassischen Gattungskanon 'Architektur, Plastik, Malerei, Kunstgewerbe' haben die Bearbeiter um Photographie, Video- und Aktionskunst sowie Design erweitert.

Mit Lob ist die umfangreiche Bibliographie zu bedenken, aus der veraltete Titel gestrichen und in die jüngere Veröffentlichungen aufgenommen wurden.


Luise Leinweber

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Empfohlene Zitierweise:

Luise Leinweber: Rezension von: Leonie von Wilckens: Grundriß der abendländischen Kunstgeschichte. , Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 3,

Rezension von:

Luise Leinweber
Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr