Rezension

Amelie Himmel: Die Venus von Urbino und Guidobaldo della Rovere. Ein Beitrag zum Herrscherverständnis in Italien im 15./16. Jahrhundert, Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2000,
Buchcover von Die Venus von Urbino und Guidobaldo della Rovere
rezensiert von Jürgen Rapp, München

Nach Vasari (Vite, 1568) hing Tizians berühmtester Akt, die "Venus von Urbino" (1538) mit drei Frauenbildnissen - einem Halbakt der Maria Magdalena und zwei Frauenköpfen - ursprünglich in der "guardaroba" des Herzogs von Urbino zusammen mit Porträts von weltlichen und geistlichen Herrschern (Karl V., Franz I. von Frankreich, Guidobaldo II. della Rovere, die Päpste Sixtus IV., Julius II. und Paul III., der Kardinal von Lothringen und Sultan Suleiman II.). Alle genannten Gemälde stammten von Tizian und wurden als "bellissimi" gepriesen.

So begegnet in dem Fürstengemach die intime Bildwelt sinnlicher Frauenschönheit der offiziellen Bildwelt weltlicher und kirchlicher Männerherrschaft. Diese zunächst befremdliche Zusammenstellung nimmt Amelie Himmel zum Anlass für ihre Dissertation.

Himmel sieht in der Zusammenführung der beiden Bildtypen einen bewussten Akt des Fürsten, in dem sich ein neues Herrscherverständnis ausdrückt. Der Herzog von Urbino, Guidobaldo II. della Rovere (1514-1574, Regent ab 1538) hatte sie seit 1538 von Tizian erworben, beginnend mit dem Frauenakt sowie dem eigenen Bildnis und endend in den 40er Jahren mit den geistlichen Porträts. Was aber soll die Intention des ungewöhnlichen Arrangements besagen? Die Frage gewinnt an Brisanz, nachdem Himmel Vasaris Angaben korrigieren und verifizieren konnte. Wie die Forschung bereits seit 1904 (Georg Gronau) weiß, wurde mit Ausnahme von Vasari der Akt von Tizian, Guidobaldo und den Zeitgenossen nie "Venus", sondern nur "donna nuda" genannt. Die "guardaroba" entpuppt sich zudem als "armeria" im Palazzo Ducale von Pesaro (nicht in Urbino!), d. h. als Raum der berühmten Waffensammlung der Della Rovere; Pesaro war damals zur eigentlichen Residenz im Herzogtum Urbino aufgerückt (23ff.). Die "Venus von Urbino" war also nur das, was man sieht: eine verführerische junge Frau von intensiver sinnlicher Präsenz und idealisierter Schönheit. Verlassen hat sie Pesaro erst, als sie 1631 (über Urbino) in die Florentiner Sammlungen der Medici aufgenommen wurde.

Um dem Sammlungsmotiv auf die Spur zu kommen, bezieht sich Himmel auf Bildprogramme der damals kultiviertesten Herzogtümer, der Este in Ferrara und der Gonzaga in Mantua. Mit beiden Häusern war Guidobaldo aufs engste verwandt. Alfonso I. d'Este hatte sich in den 20er Jahren für sein "Camerino d'Alabastro" von Tizian die prall erotische Trias "Venusfest", "Andrierbacchanal" und "Bacchus und Ariadne" malen lassen (120-129). Für Federico II. Gonzaga freskierte Giulio Romano Ende der 20er Jahre repräsentative Räume im Mantuaner Palazzo del Te, unter denen die auch für hohe Besuche genutzte "Sala di Psiche" unverblümt erotisch-sexuelle Götterszenen zeigt, mit denen sich der Markgraf (seit 1530 Herzog) durch Namensinschrift identifizierte (129-131). Erscheint in den genannten Beispielen das Selbstverständnis der Regenten um die naturhaft erotische Komponente erweitert, so weist Himmel die demonstrative Synthese mit der militärisch herrscherlichen Komponente, die in Guidobaldos gemeinsamer Platzierung von Herrscherporträts und erotischen Frauenbildern in der "Armeria" zum Ausdruck kommt, auch in der Literatur nach. Allerdings überzeugt nur der Vergleich mit Ariosts höfischem Epos "Orlando furioso" (165ff.). Unter dem Motto "l'arme, gli amori" werden hier aufs bunteste Waffentaten und Liebesabenteuer von hochadligen Männern und Frauen aus der Karlslegende erzählt. Die Erstausgabe 1516 war den Höfen der Este und Gonzaga gewidmet. Beim gehobenen Publikum wurde Ariosts hypertrophe und zugleich ironische Poesie ein absoluter "Renner".

Aus der Analyse der Vergleiche zieht Himmel (177ff.) den Schluss, das Herrscherideal habe sich in der "Zeit des übergangs von der Hochrenaissance zum Manierismus" geändert. War in den quattrocentesken Bildprogrammen der genannten Fürstenhöfe noch das Ideal des "pater familias" zum Ausdruck gekommen (133ff.), so wurde es nun zum Ideal des "uomo amante" verändert: "Die Palastausschmückungen des 16. Jahrhunderts in den Herzogtümern Urbino, Ferrara und Mantua können als eine änderung oder Akzentverschiebung der Herrscherrepräsentation interpretiert werden. Ein Herzog habe "sich in den verschiedensten Liebesverwicklungen zu bewähren, denn diese Erfahrungen würden zeigen, dass er auch fähig sei, ein Herzogtum zu führen." (177).

Die sinnlich erotische Bedeutung der Frauenakte Tizians, von denen die "donna nuda" in Pesaro das prominenteste Beispiel ist, verteidigt Himmel gegen neuplatonische Sublimierungen in den Kapiteln "Der nicht identifizierbare Akt bei Tizian" und "'Inventione' erotische Erfindungen" (62ff., 98ff.). Zum andern wehrt sie sich, den Pesareser Akt in die Tradition der Kurtisanenbildnisse einzubeziehen (85f.).

Spätestens von hier an werden die aus dem richtigen Ansatz hergeleiteten Schlüsse immer wieder verunklärt. Ist die Unterscheidung der Akte Tizians in "benennbare Personen, die in einen mythologischen oder historischen Kontext gehören" ("der identifizierbare Akt", 62ff.) und solchen , die "keine spezifische Identifikation der Dargestellten einfordern" ("der nicht identifizierbare Akt", 69ff.) heuristisch sinnvoll, so wird dieser Ansatz aber in der geleisteten Weise oft auch untergraben durch Fehler in der Bildbeschreibung (z. B. eklatant schon bei Lottos "Hochzeitsakt", 54 ff.). Selbst bei der Kompositionsanalyse des Pesareser Aktbildes unterlaufen der Autorin gravierende Fehler: So spricht sie von der "leichten Unteransicht des Frauenkörpers" (87f.), wo das Gegenteil der Fall ist, nämlich die "leichte Aufsicht", die den Blick auf den ausgestreckt sich darbietenden Leib erst ermöglicht. Außerdem verwende, so wird behauptet, Tizian "keine einheitliche Raumperspektive". Es gebe bei der Perspektive in den anonymen Aktbildern "Regelwidrigkeiten", wobei die Aktfigur selbst aus der Perspektive "herausfalle" (105f.). Verursacht seien sie durch das "Aufeinandertreffen von zwei Realitätsebenen", die so interpretiert werden: "als realistische und mythologische..., aber auch als realistische und imaginierte Realitätsebenen. Beiden...entsprechen zwei Seiten der Liebe. Einerseits die vernünftige Liebe, die der Ehe und dem Nachwuchs dienen soll, andererseits die imaginierte Liebe, die der sinnfreien Sinnlichkeit dienen soll." (106). Tizian vermische beim Pesaro-Akt ebenfalls "mittelalterliche Bedeutungsperspektive" (in Anm. 355 falsch definiert) mit "linearer Raumperspektive" (88). Korrigiert man jedoch das Perspektivschema von Abb. 46, sieht man, dass es hier durchaus den gemeinsamen Blick- bzw. Augenpunkt gibt und eine einheitliche Horizontlinie Vorder- und Hintergrund perspektivisch und in der Fläche fest aufeinander bezieht, was wiederum für die Bildauslegung entscheidend ist. Nicht erkannt wurde, wie Tizian sehr wohl im Akt selbst perspektivische Bezugspunkte und -linien angelegt hat, die auf den gemeinsamen Fluchtpunkt von Körper und Tiefenraum verweisen (Schulterlinie, Brustspitzen, Kissenumrisse). Der vermeintliche Bruch in der Perspektive ist tatsächlich nur die partielle Trennung von Tiefenraum und ausgestreckter Vordergrundfigur. Das geschieht mittels der abrupt hinter die Figur gezogenen, dunklen Wandfläche, was intensive Betrachternähe und optimale Blickkonzentration auf den hellen Körper gewährleistet und dennoch die Perspektive keineswegs kippen lässt. Dies aber ist eines von Tizians generellen Kompositionsprinzipien (bevorzugt bei Porträts).

Auf jeden Fall hätte Himmel die Referenzstudie von Rona Goffen über die "Venus von Urbino" (Rona Goffen, Sex, Space and History in Titian's Venus of Urbino, in: Titian's Venus of Urbino, ed. by Rona Goffen, Cambridge 1997, 63-90 [Himmel 237]) berücksichtigen müssen, die in der Literaturliste aufgezählt, im Text aber übergangen ist. Hier war dargelegt worden, dass Guidobaldos "donna nuda" durchaus als Hochzeitsbild (das Truhenpaar, Goffen, 66f.) gesehen wurde: Es sollte zur erotischen Erziehung seiner minderjährigen Braut Giulia Varano (geb. 1523, Heirat 1534) dienen, die erst 1538/39 in das Alter kam, in dem die Ehe vollzogen werden konnte. Die Fürstin war auf die Rolle der Mutter vorzubereiten, welche die Dynastie zu sichern hatte. Was Tizians Bild einzigartig zur Anschauung bringt, sind nicht allein die Reize des Leibes, sondern fast noch intensiver der begehrend dunkle Blick (Himmel 88: "aktiver Blick der körperlichen Begierde"), beide animierend zu erotisch lustbetonter Hingabe im ehelichen Schlafgemach. Naturhafte Sinnenfreude in der Ehe, das war von Anfang an die Konzeption von Maler und Herzog für die "donna nuda" von Pesaro. Hätte die Autorin das ursprüngliche Anliegen des Pesareser Aktbildes berücksichtigt, hätte sie die historische Situation Guidobaldos nicht nur streifen dürfen (Haupttext 116ff., nachgebessert im Appendix 217f.). Gerade für die spätere Einbeziehung der Papstbildnisse in den Sammlungsbestand ist die Kenntnis der prekären Lage von Urbino als päpstliches Lehen von Belang. Das Herzogtum war beim Aussterben der Regentendynastie in seiner Existenz bedroht, was 1631 mit dem Tod von Francesco Maria II. eintrat und Grund zur endgültigen Einverleibung in den Kirchenstaat gab. Diese Deutung widerspricht aber keineswegs der oben genannten These von Himmel, beide lassen sich durchaus vereinen. Im Lauf der Zeit (spätestens mit der vorläufigen Sicherung des Nachwuchses in zweiter Ehe nach 1548) konnte der erotische Aspekt sich verselbständigen und zu einem Teil des neuen Herrscherideals werden.

Weitere gravierende Fehler belasten den Text, so z. B. bei der Ortung der Guardaroba/Armeria im Palazzo Ducale: Dieser Raum sei identisch mit der 1588 erwähnten "galeria" (24), die tatsächlich jedoch erst Francesco Maria II. in einem anderen Palastteil einrichten ließ, was die Nachforschung von Sabine Eiche (Sabine Eiche, Il Palazzo dei Della Rovere, in: La Corte di Pesaro. Storia di una Residenza Signorile, a curadi Maria Rosaria Valazzi, Modena 1986, 34-55, mit Dokumenten [Himmel233]) ergab. Falsch ist es außerdem, die Armeria im Pianonobile zu lokalisieren (25). Eiche weist nach, dass sie im Erdgeschoss des hinteren Palastflügels untergebracht war (Eiche 45: "al pianterreno"). Aber wenn schon wichtige Schriftquellen unverstanden und falsch zitiert werden (24; statt "undem", ist bei dem Schwaben Furttenbach 1621 unmissverständlich zu lesen "unden zu Eingang des Palastes", Eiche Dok. 261), braucht es nicht zu verwundern, wenn Himmel unter den Sammlungsgegenständen der Armeria auch eine veritable Kutsche Julius' II. (carozza) ins Obergeschoss postiert (24), die in Wirklichkeit die "corazza", d. h. der Harnisch des Della Rovere-Papstes war (Eiche 45, Dok. 259). Darüber hinaus zieht die Autorin aus der zitierten Bemerkung des venezianischen Gesandten von 1571, dass die Armeria sich in zwei Räume aufteile (24), keinerlei Schlüsse. Dabei kann man vermuten, dass die Bildersammlung in derjenigen "sala" hing, in der Mocenigo die Prunkwaffen sah und die von der "altra stanza" mit dem Waffenlager für 600 Personen separiert war.

Die fehlende Stringenz der Gedankenführung, die oft vage Begrifflichkeit und eine Menge von Faktenfehlern (u. a. bei historischen Daten), sind es, die Himmels materialreiche Arbeit diskreditieren und die Lektüre erschweren. Dabei ist auch die Verlässlichkeit der vielen Detailangaben immer wieder in Frage gestellt. So ist die Dissertation nur nach mühevoller überprüfung wissenschaftlich zu rezipieren.


Jürgen Rapp

zurück zu KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 3

Empfohlene Zitierweise:

Jürgen Rapp: Rezension von: Amelie Himmel: Die Venus von Urbino und Guidobaldo della Rovere. Ein Beitrag zum Herrscherverständnis in Italien im 15./16. Jahrhundert, Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2000
in: KUNSTFORM 2 (2001), Nr. 3,

Rezension von:

Jürgen Rapp
München

Redaktionelle Betreuung:

Jan Mohr